Ein Platz in dieser Welt

28.12.2012
Im äußersten Norden Russlands liegt in der eisigen Barentssee die Insel Kolgujew. An diesem Ort, an dem es 400 Bewohner und kaum Arbeit gibt, sucht der Autor Wassili Golowanow die Unendlichkeit, seine Freiheit und Gott. Und was für ein Glücksfall für den Leser - er findet all dies.
Der Autor dieses Buches will alles: die Vergangenheit hinter sich lassen, sich selbst auslöschen und neu erschaffen, seinen Traum leben, den Sinn des Lebens finden. All das, hofft Wassili Golowanow, ist möglich auf einem öden, "riesigen Torfklumpen" von nur 3200 Quadratkilometern, der Insel Kolgujew, die im äußersten Norden Russlands von der eisigen Barentssee umgeben wird. In Bugrino, dem einzigen Dorf Kolgujews, leben etwa 400 Menschen, meist Indigene, wenige Russen, unter elenden Umständen. Die Rentierhaltung liegt am Boden, Arbeit gibt es kaum. Keine Verbindung besteht zu Murmanskgeologija, wo Erdöl gefördert wird. Hier, auf Kolgujew, sucht Wassili Golowanow die Unendlichkeit, seine Freiheit, auch Gott. Dass er all dies findet und es den Leser zudem miterleben lässt, ist das Wunder dieses durch und durch ungewöhnlichen Buches.

Was ist "Die Insel"? Ein Reisebericht oder eine lange Erzählung, eine ethnologische Untersuchung oder eine historische Darstellung, eine zivilisationskritische Warnschrift, eine Autobiografie oder ein Geschichten- und Mythenbuch? Das Buch ist all dies und noch einiges mehr. Solche Seelen- und Gottessucherbücher wie "Die Insel" gibt es in Dutzenden von Jahren nur eines.

Er lässt die eintönig flache, von Senken durchzogene Landschaft unter der Sonne erblühen und unter den heranfegenden dunklen Wolken erblassen, während seine Augen den Segeln eines Schiffes folgen. Es ist jenes Schiff, weiß Golowanow, mit dem vor genau 100 Jahren der englische Entdecker Aubyn Trevor-Battye nach Kolgujew gelangte, dessen lebensgefährliche Abenteuer es verdienen, erzählt zu werden, was natürlich auch geschieht.

"Die Insel" ist ein, so Golowanow, "vielfach geschichteter Text", ein Raum, der alle Zeiten beherbergt, auch Szenen aus dem Leben des Autors mit Ehefrau und Kind in Moskau wie in Paris. Am Ende stehen der trockene "Bericht für das Geographische Institut der Akademie der Wissenschaften" sowie eine Nachbemerkung aus dem Jahr 2012, die vor dem endgültigen Untergang der Insel in Alkohol, Elend und Industriemüll warnt. Beide lassen ermessen, was Wassili Golowanow auf den 500 Seiten zuvor gelungen ist: der öden, abweisenden Insel einen Charakter zu verleihen. Einen Platz in dieser Welt.

Besprochen von Jörg Plath

Wassili Golowanow: "Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens"
Aus dem Russischen von Eveline Passet
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2012, 528 Seiten, 29,90 Euro