"Ein Ort, an den man gerne geht"

Rezensiert von Richard Herzinger · 22.04.2005
Am 10. Mai wird das Holocaust-Mahnmal in Berlin eröffnet. Diesem Akt sind eineinhalb Jahrzehnte einer Debatte über seinen grundsätzlichen Sinn und über seine Gestaltung vorausgegangen. Claus Leggewie und Erik Meyer sind nun mit ihrem Buch "Ein Ort, an den man gerne geht" angetreten, die großen Linien der Auseinandersetzung nachzuzeichnen.
Stelen, Stelen, ringsum nichts als Stelen - wer findet sich noch zurecht in den labyrinthischen Verästelungen der deutschen Gedächtniskultur? Am 10. Mai wird in Berlin das Denkmal für die ermordeten europäischen Juden eröffnet. Diesem Akt gingen eineinhalb Jahrzehnte einer ebenso intensiven wie verwirrenden Debatte über seinen grundsätzlichen Sinn und über seine Gestaltung voraus. Und es ist wohl nur eine kurze Pause eingetreten: Alles wartet nun auf die Wirkung, die das fertig gestellte Mahnmal auf seine Besucher ausüben wird. Dann wird die Diskussion, genährt durch neues Erfahrungsfutter, wieder aufbranden.

Denn auf nichts verstehen sich die Deutschen so gut wie auf die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Symbolpolitik wird ganz groß geschrieben in diesem Lande. Deshalb drängen jetzt alle, die in der Gegenwart wahrgenommen werden wollen, in den großen Opferdiskurs. Vertriebene, Betroffene des alliierten Bombenkriegs - angesichts der enormen Aufmerksamkeit, die das Holocaust-Denkmal auf sich gezogen hat, will jeder, der Leid erlitten hat, an der erinnerungskulturellen Hochkonjunktur teilhaben. Das Gedenken an finstere Zeiten ist Teil der "nationalen Identität" der Deutschen geworden - so hat es gerade eben der Bundeskanzler verkündet.

Zeit also, dass uns ein par Schneisen durch das ebenso hoch frequentierte wie unübersichtliche Terrain der Vergangenheitsbewältigung geschlagen werden. Claus Leggewie und Erik Meyer sind angetreten, die großen Linien der Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der "deutschen Geschichtspolitik nach 1989" nachzuzeichnen und uns die Motive, Interessen, Emotionen und Strategien der beteiligten Kräfte zu erläutern. Aber ach, gleich zu Beginn des Buches erhält der erwartungsvolle Leser eine kalte Dusche. Das, was den normalen Sterblichen an diesem ganzen Streit am meisten interessiert, kommt in dem knapp vierhundert Seiten starken Buch gar nicht vor.

"Eine Frage, welche die meisten Publikationen zum Holocaust-Mahnmal bestimmen, wird von uns also nicht gestellt: ob es per se eine gute oder schlechte Idee war. Mehr als normative und ästhetische Fragen interessieren uns politische Entscheidungen und Prozeduren, die zu dem aktuellen Resultat geführt haben. "

Jetzt wird klar: Es handelt sich bei diesem Buch um den Ertrag eines politikwissenschaftlichen Projekts, das auf einen Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft zurückgeht. Leider hatten die Autoren offenbar das Gefühl, sie müssten den Leser diese akademische Herkunft ihrer Ausführungen spüren lassen, indem sie sich in manchen Passagen einer ebenso hochtrabenden wie nebulösen Theoriesprache und hoffnungslos verschachtelter Sätze bedienen.

Wer sich aber davon nicht einschüchtern lässt, findet in Leggewies und Meyers Buch ein interessantes Kompendium, anhand dessen man alle Phasen, Aspekte und Irrläufe der Debatten noch einmal im Detail nachvollziehen kann. So das Fiasko des ersten Wettbewerbs um die Gestaltung des Mahnmals, das Mitte der neunziger Jahre in einer Neuausschreibung endete. Genüsslich kann man sich auch noch einmal den polternden Auftritt des designierten rot-grünen Kultur-Staatsministers Michael Naumann auf der Debattenszenerie 1998 vergegenwärtigen, der Peter Eisenmanns Siegerentwurf des zweiten Wettbewerbs mit der Monumentalarchitektur Albert Speers verglich. Als nächstes wollte er dann das Mahnmal in ein internationales Vorwarnzentrum für aktuelle Genozide umfunktionieren. Schön zum Schmökern ist die ausführliche Beschreibung der Bundestagsdebatte 1999, in der schließlich die Realisierung des Eisenmann-Entwurfs plus eines Dokumentationszentrums über den Holocaust beschlossen wurde. Da kann man auf zum Teil vergnügliche Weise sein Gedächtnis daran auffrischen, wer eigentlich damals was gesagt hat und wo die Frontlinien verliefen. Insgesamt bescheinigen die Autoren dem Bundestag eine gelungene Debatte. Leider fehlen im Buch aber ein Register und eine Zeittafel. Das würde es als Nachschlagwerk noch wesentlich besser handhabbar machen.

Jenseits allen Theorieaufwands ist Leggewies und Meyers Grundthese eigentlich recht einfach und einleuchtend: Was von einer demokratischen Gesellschaft erinnert wird und in welcher Weise sie diese Erinnerung manifestiert, liegt nicht fest. Es bildet sich jeweils erst in den institutionalisierten Entscheidungsprozessen der Demokratie und vor dem Hintergrund einer lebendigen pluralistischen Öffentlichkeit heraus.

"Geschichtspolitik und Geschichtsbewusstsein werden stets im Hinblick auf die Gegenwart und nahe Zukunft, also auf die Zeitgenossenschaft hin erwogen und formuliert. "

Am Ende aber wird sich die Wirkung eines fertig gestellten Denk- oder Mahnmals allen hochkomplexen Erwägungen des Augenblicks entziehen, und sie wird einer ungewissen Zukunft übergeben.

"Wie werden kommende Generationen, sechzig und mehr Jahre nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager Geborene, das Mahnmal begehen und begreifen? Werden sie daran Anstoß nehmen oder es ignorieren, werden sie das verstörende Ereignis der Shoah (an)erkennen oder, wie es die Relativierer und Revisionisten seit langem wünschen, als ‚Fußnote der Geschichte’ abtun und das Denkmal zur Demonstration einer solchen Einstellung benutzen? "

Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle, unter anderem, wie sich künftige Einwanderergenerationen zu dieser spezifischen Art deutscher Identitätsvergewisserung verhalten werden. Ausdrücklich verteidigen die Autoren aber das viel kritisierte Wort Gerhard Schröders, das Mahnmal müsse ein Ort sein, "an den man gerne geht".

"Das Berliner Mahnmal ist in seiner Formensprache alles andere als lieblich, doch nimmt man seine vermutliche Massennutzung aus Anlass von Wochenendurlauben, Betriebsausflügen, Schulexkursionen beim Gang durch das Berliner Regierungsviertel vorweg, leuchtet die Charakterisierung durchaus ein. Genau das hatten die Initiatoren, vielleicht unbeabsichtigt oder ohne Wissen um mögliche Folgen, eingeplant, wenn sie einen 'Stolperstein' ins Berliner Regierungsviertel legten und damit ganz zwangsläufig eine Touristenattraktion im Sinn hatten. "

So viel Prophetie sei von dieser Stelle deshalb auch gewagt: Das Mahnmal wird zum Magneten für Touristen aus aller Welt werden. Endlich hat Berlin wieder mal eine bauliche Attraktion auf Weltniveau zu bieten. Die Berliner werden darauf stolz wie Bolle sein, und Geld bringt es auch endlich mal wieder in die Kasse. Deutsche Erinnerungskultur hin oder her: sie werden es lieben.

Claus Leggewie und Erik Meyer: Ein Ort, an den man gerne geht
Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989
Carl Hanser Verlag, München 2005