Ein neuer Turm für Saint-Denis

Bitte möglichst langsam bauen

10:07 Minuten
Die Kathedrale von Saint-Denis - noch mit nur einem Turm.
Die Kathedrale von Saint-Denis - noch mit nur einem Turm. © Bettina Kaps
Von Bettina Kaps · 10.03.2019
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Die Basilika von Saint-Denis nördlich von Paris ist eines der ersten Bauwerke der Gotik. Hier liegen fast alle französischen Könige begraben. Und doch zieht die Kathedrale kaum Besucher an. Das soll sich nun ändern - dank einer ungewöhnlichen Baustelle.
Drei Holzportale mit verzierten Rundbögen, schmale Bogenfenster, in der Mitte eine Fensterrose – die Kathedrale von Saint-Denis wirkt harmonisch und völlig symmetrisch. Nur in der Höhe stimmt was nicht: Ein einziger Glockenturm ragt in den Himmel. Auf der linken Seite endet das Gebäude mit einem Flachdach, so als sei es amputiert. Das war nicht immer so.
"Dieser spektakuläre Vorbau sollte die Macht der königlichen Abtei demonstrieren und zu der Fassade gehörten zwei Türme."
Sagt Jacques Moulin, Chefarchitekt des französischen Denkmalamts. Der zweite Turm war höher, spitzer und deshalb auch fragiler als der erste. Im Lauf der Jahrhunderte setzten ihm heftige Stürme zu, dann schlug der Blitz ein. Im 19. Jahrhundert – der Turm war immerhin schon 650 Jahre alt - war das Gemäuer so brüchig, dass es gefährlich wurde.
"Damals gab es nur eine Möglichkeit, ein altes Mauerwerk zu festigen: Es wurde abgetragen, um es anschließend neu aufzubauen. Das war so üblich."

Der Bürgermeister hofft auf Touristen und Arbeitsplätze

Aber die Verantwortlichen in Saint-Denis waren zerstritten, außerdem ging ihnen das Geld aus. Also wurde abgetragen, aber nicht neu aufgebaut – seit 1847 besitzt die Kathedrale nur noch einen Turm. Das soll sich ändern. Rund um die Basilika sind Werbetafeln aufgehängt: Darauf ist die frühere gotische Turmspitze zu sehen, mit winkenden Armen und schreitenden Beinen – so als ob sie sagen wolle: Hallo, ich komme zurück.
Treibende Kraft des Projekts ist die kommunistische Stadtregierung. Bürgermeister Laurent Russier erklärt, warum:
"Wir wollen Touristen anziehen, das Image unserer Stadt verbessern und – ausgehend vom Kulturerbe – die Stadtentwicklung fördern. Wir wollen auch Arbeitsplätze schaffen. Mithilfe der Baustelle können wir einen touristischen Parcours durch die ganze Stadt entwickeln."
Die Idee ist nicht neu. Seit 30 Jahren haben alle Bürgermeister von Saint-Denis den Wiederaufbau des Kirchturms gefordert. Zunächst ernteten sie Spott und Widerstand. Kunsthistoriker warnten vor "Vandalismus" und schwenkten die "Charta von Venedig". Diese internationale Richtlinie zur Denkmalpflege verlangt, dass Baudenkmäler nicht willkürlich oder auf Vermutungen basierend verändert werden sollen.

Konstruktion wie im Mitteralter: Handarbeit als Sensation

Aber die Stadtväter waren hartnäckig, nach und nach setzten sie sich durch. Zumal sie einen Dreh gefunden haben, um die Baustelle ohne öffentliche Gelder zu finanzieren. Sie wollen den Turm wie im Mittelalter konstruieren lassen. In Handarbeit. Die spektakuläre Baustelle soll für Besucher geöffnet, und durch deren Eintrittspreise bezahlt werden.
Die Kosten werden auf 28 Millionen Euro beziffert. Nur knapp die Hälfte dieser Summe wird für den Kirchturm benötigt, der Rest ist für die Lehrbaustelle. Für den Anschub wurden private Mäzene gefunden.
Im Rathaus läuft eine 3D-Simulation, die das Vorhaben erklärt. Zu sehen ist, wie sich neben der Kathedrale eine Art Handwerkerdorf ansiedelt: mit Werkstätten für Steinmetze, Maurer, Zimmerleute, Schmiede und Glaser. Ein Kran mit Hamsterrad gehört auch dazu. Clou des Projekts ist ein Aussichtsturm. Ein Aufzug fährt die Besucher auf verschiedene Ebenen hoch, von wo aus sie den Arbeitern auf die Finger sehen können. Krönender Abschluss ist ein 40 Meter hohes Plateau mit spektakulärem Rundum-Blick über Saint-Denis und bis nach Paris.
Ein Blick von der Aussichtsplattform der Kathedrale von Saint-Denis bis nach Paris.
Der Blick von der Kathedrale reicht über ganz Saint-Denis - bis nach Paris.© Bettina Kaps
Chefarchitekt Jacques Moulin wird die Baustelle leiten. Es sei höchste Zeit, dass die verschmähte Basilika wieder ins Scheinwerferlicht rücke, sagt der Denkmalschützer.
"Es ist sehr bedauerlich, dass diese Basilika, immerhin ein Gründungsbau der gotischen Architektur und eins der schönsten und reichhaltigsten Kulturgüter von Frankreich, so unbekannt ist. Dabei ist sie sogar mit der Pariser Metro erreichbar. Verrückt!"
Die Basilika mit den Königsgräbern zieht derzeit 130.000 Besucher an – pro Jahr. So viele schieben sich in weniger als einer Woche durch Notre-Dame de Paris. Dabei hat die Basilika viele Trümpfe: Sie ist über dem Grab des Heiligen Dionysius erbaut.
Der römische Missionar und erste Bischof von Paris wurde im Jahr 250 auf Montmartre enthauptet. Der Legende zufolge nahm er seinen Kopf in die Hände und lief sechs Kilometer Richtung Norden, bis zu der Stelle, wo er begraben werden wollte. So entstand die Pilgerstätte Saint-Denis. Im siebten Jahrhundert ließ Frankenkönig Dagobert in Saint-Denis eine Abtei mit Basilika erbauen und sich neben dem Heiligen beerdigen. Fortan diente die Kirche als Bestattungsort der französischen Herrscher: 42 Könige, 32 Königinnen, 63 Prinzen und Prinzessinnen sind hier begraben

Selbst die Kanäle waren nach dem Kirchturm ausgerichtet

Im 12. Jahrhundert ließ der mächtige Abt Suger die Kirche neu erbauen. 1140 wurde die Fassade mit dem rechten Turm fertig gestellt. Der linke sollte identisch sein, aber sein Bau verzögerte sich um 40 Jahre. Unterdessen hatte in Paris der Bau von Notre-Dame begonnen, sagt Jacques Moulin.
"Jede der beiden Kirchen wollte reicher, mächtiger und prachtvoller sein. Für Notre-Dame waren zunächst zwei Turmspitzen geplant. Gut möglich, dass die Mönche in Saint-Denis ihren zweiten Turm deshalb mit einer so spektakulären, 85 Meter hohen Spitze ausgestattet haben."
Die Bauherren von Notre-Dame überlegten es sich anders – die Türme enden flach. So kam es, dass der zweite, spitze Turm von Saint-Denis ein Unikum blieb. 500 Jahre lang, bis zur Errichtung des Pariser Invalidendoms, war die Basilika damit das höchste Gebäude der Region. Eine Landmarke – weit über die Stadt hinaus.
"Die königlichen Wege wurden damals in Richtung Kirchturm angelegt, auch die Kanäle von Paris. Während der französischen Revolution wurde der Abteikirche übel mitgespielt. Aber ausgerechnet der Turm mit dem Kreuz wurde verschont. Wahrscheinlich hat sich niemand so hoch hinauf getraut. Er blieb intakt."

Manche Einwohner meinen: Es gibt wichtigeres

Der neue Turm soll wieder ein Magnet werden und das Image der Stadt verbessern. Das jedenfalls erhofft sich Bürgermeister Russier. Die Einwanderer-Stadt mit ihren 130 Nationalitäten leidet unter hoher Arbeitslosigkeit, Drogenhandel, Schattenwirtschaft. Außerdem wird sie oft mit Islamismus in Verbindung gebracht.
Die Eingangsfassade der Kathedrale ist frisch renoviert. In der Fensterrose glitzert eine vergoldete Uhr. Ein paar Frauen mit Kinderwagen überqueren den Kirchplatz. Die jungen Mütter ärgern sich, dass die Stadt so viel Energie in ein, wie sie meinen, völlig überflüssiges Projekt steckt.
"In Saint Denis gibt es Wichtigeres zu tun. Sicherheit, Sauberkeit, Schulen. Unsere Kinder machen kaum noch Ausflüge, weil das Rathaus an allen Ecken und Enden spart. Die Basilika ist sehr schön, so wie sie ist. Egal, wo die Millionen herkommen, ob von privaten Spendern oder vom Staat: Es gibt Dringlicheres."

Die Kirche hofft auf Neuentdeckung als Ort des Glaubens

Und was sagt die Diözese? Die Kathedrale ist Eigentum des Staates, die katholische Kirche darf sie als Gotteshaus benutzen. So will es das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905.
Der Gemeindepfarrer der Basilika, Jean Jannin, sieht es ähnlich wie der Bürgermeister.
"Wir glauben, dass dieses Bauprojekt die Bindungen zwischen den Bewohnern der Stadt stärken kann. Unabhängig von Herkunft und Religion. Alles, was für die Bevölkerung positiv ist, ist auch für uns als Kirche positiv, weil wir hier eingebunden sind."
Deshalb sei auch der Bischof dem Patenschaftskomitee für den Kirchturm beigetreten. Pfarrer Jannin gefällt die Vorstellung, dass die Touristen demnächst in Scharen nach Saint-Denis strömen könnten. Weil er glaubt, dass sie sich nicht mit der Außenansicht begnügen werden.
"Besucher, das bedeutet auch: Menschen, die in die Kirche hineingehen. Sie werden entdecken, dass es hier eine lebendige Gemeinde gibt. Heute früh habe ich die Messe gelesen, an einem Wochentag, da waren 80 bis 100 Gläubige versammelt. Diese Kirche ist nicht nur ein architektonisches Meisterwerk, sie ist auch ein Ort des christlichen Glaubens."
Inzwischen hat Saint-Denis so gut wie alle Hürden zum Bau der neuen alten Turmspitze genommen. Ab dem kommenden Sommer sollen das Handwerkerdorf und wenig später der Aussichtsturm errichtet werden. Ab 2020 soll gebaut werden. Und zwar möglichst langsam. Die Stadt hofft, dass sich die Arbeiten mindestens über ein Jahrzehnt hinziehen werden. Nicht der Turm, sondern die Baustelle ist das eigentliche Projekt.
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