Ein mulmiges Gefühl

Von Stefan Keim · 18.04.2013
Die skurrile Geschichte eines Kriminellen-Pärchens im Rußland Jelzins hat der junge Hausautor des Staatstheaters in Mainz, Philipp Löhle, auf die Bühne gebracht. Und er überzeugt mit dem Stück Alexander Moltschanows - auch wenn die Aufführung mehr Witz als Emotion und mehr Tempo als Tiefsinn bietet.
Andrej hat Spielschulden. Er kann sie nur loswerden, wenn er von einem Mann Geld eintreibt, der noch tiefer im Dreck sitzt als er. Wenn der Mann nicht bezahlt, soll Andrej ihn töten. Die stärkere Ratte frisst die schwächere. Russland ist ein raues Land, im Ernstfall zählt das Recht der Messer. So beschreibt der Autor und Journalist Alexander Moltschakow seine Heimat. Sein Theaterstück "Mörder" gehört zu den größten Erfolgen der letzten Jahre nicht nur auf Moskauer Bühnen.

Die Bühne im Deck 3 unter dem Dach des Staatstheaters Mainz sieht extrem billig aus. War sie wohl auch, aber das passt zum Stück. Eine rote Sonnenuntergangstapete steht für Träume von der Ferne, eine Backsteinwand fürs dörfliche Leben, wenn Szenen in einem Fenster spielen, sieht das aus wie im Kasperletheater. "Mörder" spielt nicht in der Putin-Gegenwart, sondern vor 20 Jahren, in der Jelzin-Phase des explodierenden Oligarchenkapitalismus.

Plötzlich wurden Menschen unfassbar reich, oft mit Aktionen am Rande der Kriminalität. Und so verhalten sich auch die Studenten, um die es hier geht. Jeder ist bereit, alles zu verkaufen, Arbeitskraft, den eigenen Körper, seine Überzeugungen. Doch für Andrej gilt das nicht ganz, und das macht ihn zum Helden.

Obwohl Autor Moltschanow pflichtschuldig Dostojewski zitiert und auf den gewissenlosen Mörder Raskolnikow verweist, hat Andrej noch eine moralische Grundorientierung. Irgendwas kommt da noch. Andrej glaubt daran. Denn sonst würde er längst nicht mehr leben. Jemand, nenn ihn mal Gott, beschützt ihn. Weil er eine Aufgabe hat. Deshalb bleibt Andrej cool, will seine Mutter anpumpen und dann einfach behaupten, sein Opfer habe ihm das Geld gegeben.

Blöd ist nur, dass er die Geliebte seines Gläubigers an den Hacken hat, die auf ihn aufpassen soll. Diese Oksana wirkt zunächst wie eine dieser aufgedonnerten, hirnschwachen Russentussen, die einem oft in Genrefilmen und realen Urlaubsorten der Superreichen begegnen. Doch auch in ihr steckt ein eigener Charakter, ein verlorener Traum. Schließlich war sie mal Studentin, ihr Macho-Lover beschimpft sie als "Ex-Immatrikulierte", was ziemlich sexistisch klingt. Oksana ist eine Kämpferin, die sich auf niemanden verlässt. Langsam kommen Andrej und sie sich näher.

Das war vorhersehbar. Aber es macht nichts. Der 1974 geborene Alexander Moltschanow bedient Genrekonventionen, er schreibt auch Serien fürs russische Fernsehen. Sein Theaterstück meidet aber alle Authentizitätsfallen, weil die Charaktere alles erzählen, was sonst in den Regieanweisungen steht. Sie beschreiben die Orte der Handlung, das Aussehen der Leute, formulieren ihre Gefühle. All das muss dann nicht mehr gespielt werden.

Die Moskauer Aufführung, die letztes Jahr beim Festival "Neue Stücke aus Europa" in Wiesbaden gezeigt wurde, war fast pures Erzähltheater auf engstem Raum. Philipp Löhle, Stückeschreiber und Theatermacher, inszeniert mehr Aktion, meidet aber Verdoppelungen des ohnehin Gesagten. Oder er nutzt sie für ironische Pointen.

Löhle kürzt die religiösen Elemente des Stückes - die allerdings heute ziemlich zeitgemäß wirken würden - und reduziert die Darstellerzahl von vier auf drei. Zlatko Maltar, der erst mit Rockermähne den Gangster mimt, spielt auch mit großem Spaß Andrejs Mutter. Selten gelingt es Profischauspielern so überzeugend, die stockende, stammelnde Sprechweise redeungeübter junger Leute zu treffen wie Felix Mühlen als Andrej. Naive Träume plappert er mit großer Begeisterung heraus, ohne ganz die überlebensnotwendige Coolness-Haltung aufzugeben. Auch Lisa Mies als Oksana demonstriert überzeugend, dass auch ein Staatstheaterensemble Typen von der Straße verkörpern kann, ohne peinlich zu wirken.

Es gibt zwar einige Hinweise, dass "Mörder" vor 20 Jahren spielt. Heute würden Kleinkriminelle auch in Russland wahrscheinlich nicht mehr Bus fahren. Der 75 Minuten kurze Abend wirkt dennoch, als ob die Geschichte in unseren prekären Wohnvierteln von heute spielen könnte. Da wimmelt es ja ebenfalls von Ex-Immatrikulierten. Auch wenn die Aufführung mehr Witz als Emotion, mehr Tempo als Tiefsinn vermittelt, löst sie doch ein mulmiges Gefühl aus. Das Lebensgefühl aus dem Russland der Jelzin-Zeit wirkt - so wie Alexander Moltschanow es erzählt - überraschend nah.
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