Ein Mozart der Spekulation

17.01.2011
"JR", 1975 erschienen und jetzt neu aufgelegt, ist in den letzten Jahren faszinierende Aktualität zugewachsen. Wo bleibe eigentlich der Roman, rufen viele, der den Wahnsinn der Finanzmärkte ins Bild setzt? Er wurde längst geschrieben.
William Gaddis gehört mit Thomas Pynchon und Don DeLillo zu den Großepikern der amerikanischen Postmoderne. Sein Roman "JR", 1975 erschienen, ist ein Monster von einem Buch, das nun in der gerühmten, noch einmal verbesserten Übersetzung von Marcus Ingendaay und Klaus Modick neu aufgelegt wurde.

Der Grund liegt auf der Hand: Dem Buch ist in den letzten Jahren faszinierende Aktualität zugewachsen. Wo bleibe eigentlich der Roman, rufen viele, der den galoppierenden Wahnsinn der Finanzmärkte überzeugend ins Bild setzt? Er wurde längst geschrieben, von Gaddis. Die Initialen, unter denen seine zwölfjährige Hauptfigur antritt, gleichen nicht zufällig denen von John Rockefeller. JR ist ein kaum dem Kinderzimmer entwachsenes Finanzgenie, ein Mozart der Spekulation.

Als seine 6. Klasse einen Schulausflug an die Wall Street macht, fängt er Feuer, stellt vertrackte Fragen, deckt sich mit Broschüren ein und beginnt bald darauf, aus dem Nichts via Telefon ein Imperium aufzubauen. JR ist der Virtuose der Leasing-Manöver, Steuervorteile, Verlustvorträge, Abschreibungen und Liquidationen. Er bringt – nachdem er seine Geschäfte mit einem Posten Gabeln aus Armeebeständen begonnen hat – zahlreiche Firmen unter seine Kontrolle, fusioniert und wickelt ab nach Herzenslust. So illustriert der Roman in komischer Übertreibung eine Ökonomie, die sich völlig abgekoppelt hat vom realen Leben und Leiden, Arbeiten und Wirtschaften der Menschen. Moralische Bedenken kontert JR mit der Devise: "Ich hab das doch nicht erfunden, so macht man das eben!"

"Geld" ist das erste, von einer "raschelnden Stimme" hervorgebrachte Wort des Romans, Geld ist sein Leitmotiv, das auf verschiedenen Ebenen und in diversen Kontexten durchgespielt wird: Erbschaftsangelegenheiten, Ehestreit, Erziehung – indem der Roman scheinbar nur die O-Töne des laufenden Betriebs protokolliert, wird er zur monumentalen Parodie des Kapitalismus, zur Freakshow der Gier.
Die etwa 50 Hauptfiguren sind mehreren Kreisen zugehörig: dem Lehrerkollegium an JRs Schule; einer Gruppe von Künstlern, die bohèmemäßig in einem der "Entropie" überlassenen Apartment hausen; den Juristen und Finanzexperten. Diese Kreise überschneiden sich zunehmend. So ist etwa der Direktor von JRs Schule, die mit innovativen "Pilotprojekten" an Geld zu kommen versucht, zugleich der Chef einer Bank und trennt seine Aufgabenbereiche nur ungenügend. Vor allem aber ziehen JRs Aktivitäten die anderen Figuren in ihren Strudel, allen voran den Musiklehrer Edward Bast, der JR bei offiziellen Anlässen als Geschäftsführer vertritt.

Ohne Einteilung in Kapitel erstreckt sich der Roman über mehr als 1000 Seiten. Berühmt-berüchtigt ist Gaddis dialogische Methode: "JR" besteht fast ausschließlich aus Gesprächen und Gesprächsfetzen, deren Sprecher nicht ausgewiesen werden. Der Leser wird hineingeschickt in ein brabbelndes Gewirr der Stimmen und Missverständnisse, in dem er sich allerdings nach einer Weile zurechtzufinden lernt. Denn Gaddis’ Kunst besteht darin, fast allen Figuren eine markante sprachliche Physiognomie zu geben. JR ist am ständigen "eh" und dem Lieblingsfluch "heilige Scheiße" zu erkennen; Bast am zaudernden Gestus, der ihn kaum einen Satz zu Ende sprechen lässt.

So liest sich der zunächst so sperrige Roman je länger, je leichter – bis zum Kollaps des JR-Imperiums. Bast erleidet einen psychischen Zusammenbruch und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Dort kann er endlich seinen Komponisten-Träumen nachgehen: Aus der geplanten Oper, die er schon auf Kantatenformat heruntergestutzt hatte, soll nun ein kleines Cello-Solo werden. Sage niemand, dass der widerständige Künstler nicht zum Zug kommt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

William Gaddis: JR
Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay und Klaus Modick
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010
1039 Seiten, 29,99 Euro