"Ein Logbuch, das Bewegungen verzeichnet"

06.05.2013
Der Erzählband "Drosseln begraben" liefert einen Querschnitt durch das Schaffen des mexikanischen Autors Sergio Pitol, der gerade 80 Jahre alt geworden ist. Verstrickungen, Traumgespinste, surreale Konstellationen, Reisen, die plötzlich ganz woanders enden, als geplant - dies sind Themen, die Pitol immer wieder variiert.
In Sergio Pitols Erzählungen ist es oft so, als beträte man ein Labyrinth. Ein Labyrinth aus lauter Fluren, Zimmern, Wendeltreppen, unerwarteten Dachgeschossen und finsteren Kellergängen. An jeder Ecke droht man sich zu verlieren, doch dann öffnet sich plötzlich eine Tür, und die Geschehnisse fügen sich zu einer Geschichte – voller Lücken und Geheimnisse, versteht sich. Mitunter darf der Leser sogar zuschauen, wie so eine Geschichte fabriziert wird.

"Drosseln begraben" lautet der Titel des neuen Erzählbandes von Sergio Pitol, der zu dessen 80. Geburtstag beim Wagenbach Verlag erschienen ist und einen Querschnitt durch das Schaffen des mexikanischen Autors liefert. Die Titelgeschichte handelt tatsächlich davon, wie ein Schriftsteller versucht, eine Geschichte zu schreiben, bestimmte Wendungen verwirft und plötzlich im Traum in die Sphären vordringt, die ihm verraten, wie es weitergehen soll. Während der Autor über Anfänge nachdenkt, Handlungsstränge verwirft und Figuren ausprobiert, entspinnt sich fast absichtslos die Geschichte seiner Cousine Lorenza, die sich in eine Affäre mit einem verheirateten Ingenieur verstrickt.

Verstrickungen, Traumgespinste, surreale Konstellation, Reisen, die plötzlich ganz woanders enden, als geplant – dies sind Themen, die Sergio Pitol immer wieder variiert. Am 18. März 1933 in Puebla/Mexiko geboren, wuchs er in einem Zuckerrohbetrieb in Veracruz auf, trat nach seinem Studium 1960 in den diplomatischen Dienst ein und war Abgesandter in Paris, Warschau, Budapest, Moskau und Prag. Neben seinem Amt begann er, Jane Austen, Joseph Conrad, Lewis Carroll und russische Klassiker ins Spanische zu übersetzen, bis er schließlich eigene Erzählungen vorlegte. Einer seiner Säulenheiligen ist Tschechow, aber auch die Einflüsse der lateinamerikanischen Tradition blitzen immer wieder auf: von Borges, Juan Rulfo bis zu Cortázar. Schauplätze seiner Geschichten sind häufig Orte, an denen er in Europa gelebt hat. So wird ein ahnungsloser Reisender auf dem Rückweg von Lodz von einem alten Mütterchen entführt und in einer verstaubten Wohnung mit der Asche des eigenen Großvaters konfrontiert.

"Meine Erzählungen sind ein Logbuch, das Bewegungen verzeichnet", beschrieb Pitol das leichtfüßige Kreisen seiner Prosa-Recherchen einmal, die sich auf stilistischer Ebene durch einen komplexen Satzbau und lange Perioden auszeichnen. Neben den surreal anmutenden, sich allmählich vorantastenden Geschichten gibt es aber auch solche, die von knallharter Faktizität durchdrungen sind. In "Aufgebahrt" legt der Geschäftsmann Daniel Guarneros eine Lebensbeichte ab und stellt fest, dass sein an der Oberfläche so glänzendes Dasein in Wirklichkeit eine einzige Lüge ist. Seine politischen Ideale, die Revolution, die Hoffnungen auf ein besseres Mexiko und vor allem seine große Liebe hat er verraten für eine Funktionärskarriere in seinem korrupten Land. Sergio Pitols Erzählungen sind im besten Sinne kosmopolitisch und bestechen durch ihre traumverlorene Atmosphäre.

Besprochen von Maike Albath

Sergio Pitol: Drosseln begraben. Erzählungen
Aus dem mexikanischen Spanischen übersetzt von Anglica Ammar,
Wagenbach Verlag, Berlin 2013
156 Seiten, 19,90 Euro
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