Ein Künstler der Stadt

Von Kathrin Hondl · 16.10.2007
Das Centre Pompidou in Paris zeigt eine große Alberto Giacometti-Retrospektive. Viele der 650 Werke des Schweizer Malers und Bildhauers sind zum ersten Mal öffentlich zu sehen. Im Mittelpunkt steht Giacomettis Pariser Atelier, in dem er von 1926 bis kurz vor seinem Tod 1966 arbeitete.
"L’Atelier de Giacometti" – so überschrieb Jean Genet 1957 seinen bis heute wegweisenden Text zur Kunst seines Freundes Alberto Giacometti. 60 Jahre danach wird Genets Buchtitel nun zum Titel einer Ausstellung, die sich von den chronologischen Pfaden der klassischen Retrospektive entfernt und stattdessen einen quasi mythischen Ort ins Zentrum rückt: Alberto Giacomettis Pariser Atelier in der Rue Hippolyte-Maindron. 40 Jahre lang arbeitete er dort immer wieder, von 1926 bis kurz vor seinem Tod 1966. Die Italienerin Paola Carola kannte das Atelier gut – sie saß Modell für Alberto Giacometti:

" Ich bewegte mich nicht, und war sehr still. Während er sich ständig bewegte und die ganze Zeit redete. Oft schimpfte er mit sich selbst, er war nie zufrieden mit dem, was er machte. Er sagte immer, es würde ihm nicht wirklich gelingen, zu machen, was er wollte, nämlich genau das abzubilden, was er sah. "

Dieser rastlose Arbeitsprozess ist das große Thema der Pariser Ausstellung, die mit einem Baby beginnt: Ein entspanntes Baby in einem weißen Bettdecken- und Kissenmeer, aus dem nur der Kopf und die beiden Händchen herausragen. Der Schweizer Impressionist Giovanni Giacometti hat das Babybild gemalt, 1902, ein erstes Porträt seines Sohnes Alberto. Weitere Porträts folgen, Alberto als siebenjähriger, als neunjähriger und, 1917, als 16-Jähriger: Da hat er sich bereits selbst gemalt – das postimpressionistische Selbstporträt zeigt einen ruhig, fast distanziert wirkenden Jungen mit lockigen Haaren, der leicht schielend in die Ferne schaut. Ein Blick in die Ferne, der für Paola Carola das Gesamtwerk Giacomettis charakterisiert:

" Albertos Blick ging immer in die Ferne. Alle seine Skulpturen sind so. Sie haben alle diesen Blick, der weiter reicht. Und Blicke prägten auch unsere Sitzungen im Atelier. Wenn er mich anschaute, blickte ich in die Ferne. Und wenn er seinen Blick auf den Erdklumpen richtete, den er gerade modellierte, dann schaute ich ihn an. Es war ein ständiger Wechsel von Blicken. Ich glaube, das war sehr sehr wichtig, sowohl für Albertos Arbeit als auch für mich. Ich habe in diesem Atelier das Gefühl einer sehr großen Freiheit empfunden. "

"L’Atelier d’Alberto Giacometti" im Centre Pompidou präsentiert keine Rekonstruktion dieses legendären Arbeitsortes - geographische Mitte der Ausstellung ist ein leerer Raum, der exakt die Größe des Ateliers hat: knappe 23 Quadratmeter.

Veronique Wiesinger, die Kuratorin: " Giacometti ist alles andere als ein fetischistischer Künstler, und eine Rekonstruktion des Ateliers würde seinem Geist völlig widersprechen. Ich wollte den leeren Raum des Ateliers in der Originalgröße zeigen, denn das ist sehr wichtig, dieser Maßstab. Und dann haben wir aber auch die Originalwände, auf die er gezeichnet hat, die für ihn so etwas wie ein großer Skizzenblock waren. Sie sind ein Echo der vollendeten Arbeiten und der Projekte, die er in diesem Atelier realisiert hat. Das Atelier ist wie ein Vulkanschlund, der alle Werke ausspuckt, die in der Ausstellung zu sehen sind. "

Werke aus der Sammlung der Pariser Fondation Alberto und Annette Giacometti, die viele Jahre wegen erbitterter juristischer Auseinandersetzungen unter Verschluss waren und die nun in dieser außergewöhnlichen Retrospektive wirkungsvoll in Szene gesetzt werden. Wie Fundstücke einer archäologischen Ausgrabung werden zum Beispiel Sockelmodelle präsentiert, die Giacometti für seine Skulpturen geformt hat. Skulpturen, die in allen Entstehungsphasen und immer wieder neuen Versionen zu sehen sind. So die Skulpturen-Gruppe der "Femmes de Venise", die 1962 für die Biennale in Venedig entstand, oder – ein anderes berühmtes Werk – der "Schreitende Mann" mit dem filigranen Körper und dem Klumpfuß, der heute Schweizer Geldscheine ziert. Er ist nicht nur als vollendete Bronze präsent, sondern auch als Gipsfragment aus dem Jahr 1960 und als große Skizze auf einem Stück Wand aus dem Pariser Atelier.

Auf Erklärungen oder kunsthistorische Erläuterungen wurde dabei völlig verzichtet. Denn nicht die -ismen der Moderne – Kubismus oder Surrealismus – haben die Kuratorin interessiert, sondern allein der Schaffensprozess Alberto Giacomettis:

" Als er nach Paris kommt, ist er natürlich mit dem Kubismus konfrontiert, nicht mit dessen erster Phase freilich, er kommt ja erst 1922, aber mit den kubistischen Künstlern dieser Zeit – wie Lipchitz oder Zadkine. Er interessiert sich auch für Brancusi. Zum Surrealismus kommt er eher spät, die Bewegung entstand 1924, er gehörte erst um 1929 zur Gruppe dazu. Aber alle Themen des Surrealismus sind da schon längst auch seine Themen. Er war Surrealist vor dem Surrealismus und er blieb es, nachdem er von der Gruppe ausgeschlossen wurde. Träume, magisches Denken, Assemblagen – all das war für seine Kunst sein ganzes Leben lang von Bedeutung. "

Die rund 650 gezeigten Skulpturen, Zeichnungen und Gemälde haben in den weitläufigen Ausstellungsräumen des Centre Pompidou viel Platz – im bewussten Gegensatz zur Enge des kleinen Ateliers in der Rue Hippolyte-Maindron.

" Das ist wie ein Stück Stadt. Giacometti ist ein Künstler der Stadt. Deshalb wollte ich auch, dass man die Dächer von Paris sieht. Giacometti ohne Paris – das ist unvorstellbar. Auch darum geht es uns bei der Präsentation der Sammlung der Fondation. Annette Giacometti wollte, dass das eine französische Stiftung wird. Um Giacometti Paris zurückzugeben. "

Besonders eindrucksvoll gelingt das in einem Raum: Vor den großen Fenstern in der sechsten Etage des Centre Pompidou, die den Blick auf das Pariser Häusermeer eröffnen, stehen Porträtbüsten von Alberto Giacometti. Porträts seines Bruders Diego und namenloser Männer in Pullover, Windjacke oder Mantel. Und ähnlich wie die Hände und der Kopf des Babys Alberto Giacometti auf dem weißgrauen Bettchenmeer des Gemäldes am Anfang der Ausstellung scheinen diese Männerköpfe nun über dem milchigen Grau der Pariser Dächer zu schweben. Den Blick in die Weite des Museums gerichtet…