Ein Kriegstreiber

Rezensiert von Wolfgang Herles · 21.09.2008
30 Jahre lang hat Kaiser Wilhelm II. Deutschland regiert und am Ende in die Katastrophe gestürzt. Ebenfalls 30 Jahre seines Forscherlebens hat der Historiker John Röhl dem Hohenzollern-Herrscher gewidmet. Normalerweise sind so besessene Biographen fasziniert und erfüllt von Achtung und Bewunderung für die Figur, deren Leben sie rekonstruieren und nachempfinden. Nicht so Röhl.
Für ihn ist Wilhelm ein bornierter Dummkopf, ein sich von Gott auf den Thron gesetzt fühlender Kriegstreiber, ebenso hinterlistig wie dilettantisch als Diplomat, dazu von pathologischem Hass auf Juden, Slawen, Demokraten.

Die Beweise für dieses Urteil bezieht Röhl größtenteils von Wilhelm selbst.

"Werde in meiner Praxis auch für später mich nur auf Gott und mein scharfes Schwert verlassen und berufen! Und scheiße auf die ganzen Beschlüsse."

Mit dieser für ihn typischen Melange aus Casinoton und hohlem Pathos kommentierte der Kaiser bereits 1899 die Beschlüsse einer europäischen Friedenskonferenz. Er hätte Krieg jederzeit in Kauf genommen für sein Ziel, Deutschland so groß zu machen wie Britannien. Der erste Weltkrieg hätte schon viel früher, nicht erst 1914, ausbrechen können.

John Röhls Urteil über Wilhelm umfasst insgesamt drei Bände auf rund 4000 Seiten. Es ist kaum eine Seite zu viel. Auch der letzte, umfangreichste Band, liest sich wieder wie ein vielstimmiger Roman. Das ist Röhls Stärke: Er lässt die Handelnden selber sprechen, zitiert nicht nur aus offiziellen Dokumenten, sondern holt unzählige private Quellen, Briefe und Tagebucheintragungen ans Licht. Wilhelm, seine Familie, Politiker und Militärs werden lebendig, oft erschreckend plastisch.

Die heraufziehende Weltkatastrophe ist nicht dem Versagen von Systemen und Institutionen oder gar schicksalhafter Verstrickungen geschuldet, sondern dem schlechten Charakter der Verantwortlichen, allen voran des Hohenzollern auf dem Thron. Die meisten deutschen Historiker haben Röhl bisher widersprochen. Er nehme Wilhelm zu wichtig, sagen sie, überschätze seine politische Bedeutung.

Die von Röhl neu vorgelegten Quellen aber lassen keine andere Deutung zu. Wilhelm Monarchie war absolut, war persönliche Herrschaft. Selbst Reichskanzler waren letztlich nur allzu unterwürfige Mitglieder eines byzantinischen Hofstaats, wurden als Zivilisten ohnehin nicht ernst genommen von Wilhelm, der nur Militärs achtete.

Der Versuch des Deutschen Reichs, mittels einer gewaltigen Flotte England herauszufordern, ist bekannt. Röhls Verdienst ist es, darüber hinaus Wilhelms unselige Diplomatie scharf zu belichten und zu entschlüsseln.

"Als wäre solche Mischung aus Selbstüberschätzung und Verschlagenheit in Europa nicht riskant genug, hetzte der Kaiser England gegen Amerika, Amerika gegen England und Japan, und Russland gegen Japan auf. Mit rastloser Energie bot er in rascher Folge den Engländern, den Russen, den Franzosen und den Amerikanern immer neue Bündnisverträge an. Diese mögen zunächst verwirrend und inkonsequent erscheinen, sie hatten aber doch allesamt das Ziel, das Gleichgewicht der Kräfte in Europa aufzuheben, um die deutsche Vorherrschaft zu zementieren und den Weg zur Weltmacht zu bahnen."

Motive des Kaisers: Geltungssucht, Größenwahn, aber auch bis zum Rassismus gesteigerter Nationalismus. Seit 1904 spukt die Idee eines Präventivkriegs Deutschlands durch Wilhelms krankes Gehirn. Wieder kommentiert Röhl nicht, er kann sich auf die Originaltöne des Kaisers verlassen. Der spricht vom bevorstehenden:

"Rassenkampf der Germanen gegen die übermütigen Slawen. Die Slawen seien nicht zum Herrschen geboren, sondern zum Dienen, dies müsse ihnen beigebracht werden."

1912 bereits scheint es, als stünde der Ausbruch des 1. Weltkriegs unmittelbar bevor.

"Tagelang befand sich der Oberste Kriegsherr in einer Art von rassistischem und militaristischem Rauschzustand."

Zwei Jahre später, nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo halten Kaiser und Generalität die Gelegenheit für günstig, gegen Russland und Frankreich einen Präventivkrieg zu beginnen. Berlin glaubt tatsächlich, England werde nicht eingreifen.
Wilhelm hält an dieser Illusion noch fest, als es längst zu spät ist, benebelt von, wie Röhl schreibt, kindischem Glauben an die monarchische Solidarität des englischen Königs. Deshalb bezeichnet Röhl den Ausgang des Geschehens in Berlin als "Tragikkomödie".

"Das zeugt nicht für Friedensliebe, sondern eher für panische Verwirrung und für einen an Wahnsinn grenzenden Realitätsverlust."

Der dritte Band, Wilhelms Desaster, ist nicht ohne die Jugend des Kaisers im ersten Band zu kennen. Mit verkrüppeltem Arm auf die Welt gekommen versucht eine drakonische Dressur den sensiblen Jüngling buchstäblich zurechtzubiegen. Auch seelisch verbogen wächst in ihm der Hass vor allem auf seine englische Mutter, einer Tochter von Queen Victoria. Seine persönliche Feindschaft gegenüber England ist psychologisch plausibler als rational politisch erklärbar. Röhl psychologisiert zwar nicht, aber er behält die persönlichen Motive Wilhelms stets im Auge.

Zu erkennen ist dabei zweifellos auch ein persönliches Motiv des Forschers. Auch er stammt aus einer deutsch-englischen Familie.

In dem Augenblick, in dem dann nur noch die Waffen sprechen, ist Wilhelms "Persönliche Monarchie" beendet. Jetzt regiert die Generalität.

"Bezeichnend für die weitgehende politische Teilnahmslosigkeit des Obersten Kriegsherrn ist, dass er weder ein eigenständiges und beständig verfolgtes Kriegszielprogramm, noch eine eigene Vorstellung über einen gangbaren Weg zum Frieden entwickelte. Wie so oft bei Wilhelm II. sind die überlieferten Äußerungen sprunghaft und widersprüchlich, schwankend je nach Kriegslage und abhängig von flüchtigen Einflüssen."

Am Ende tritt Wilhelm ab, geht ins Exil. Das 4000-Seiten-Werk Röhls hat für die letzten 27 Jahre Wilhelms nur noch 130 Seiten übrig. Ohne Bedeutung sind sie nicht.

Bereits 1927 schrieb Wilhelm:

"Die Presse, die Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss…Das Beste wäre wohl Gas."

Dass es Hitler gelungen sei, die Juden vom europäischen Kontinent zu "vertreiben" hat Wilhelm 1940 dann bejubelt.

Mit Wilhelm endet die nicht einmal ein halbes Jahrhundert währende Hohenzollernherrschaft über das von Bismarck mit Blut und Eisen zusammen gezwungene Deutsche Reich. Es ist wahrlich keine Erfolgsgeschichte. Und danach erst recht nicht. Im wiedervereinigten Deutschland mit der Hauptstadt Berlin baut man nicht nur die Fassade von Wilhelms Schloss wieder auf, sondern würde auch gerne der Vorstellung anhängen, Hitler sei wie ein Meteor eingeschlagen. Die Tragödie beginnt aber mit dem preußischen Kaisertum.

Wilhelm II ist dabei eine, dank Röhl nicht länger unterschätzte, Schlüsselfigur.

Das nun vorliegende Material lässt kein anderes Urteil zu als dieses: Wilhelm II. war ein Unglück für Deutschland und Europa. Er war der Hauptverantwortliche für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ohne diesen Krieg aber hätte es Hitler und die Nazis nicht gegeben.

Ein anderer gekrönter Preuße, der von seinem barbarischen Vater zum seelischen Krüppel geprügelte Alte Fritz, schrieb in seinen späten Jahren die Geschichte des Siebenjährigen Kriegs. Über dieser Arbeit kam er zu folgender Einsicht:

"Ich habe mich mehr und mehr davon überzeugt, dass Geschichteschreiben soviel heißt wie die Torheiten der Menschen und die Spiele des Zufalls zusammenzustoppeln."

Wohl wahr. Röhls Buch "Weg in den Abgrund" ist dafür ein brillantes Beispiel.


John C. Röhl:
Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1900 - 1941,

C. H. Beck Verlag, München 2008
Cover: "John C. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1900 - 1941"
Cover: "John C. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1900 - 1941"© C. H. Beck Verlag