Ein kommunistischer Cowboy

Rezensiert von Alexander Schuller |
Noch heute verehren viele Chinesen Mao-Tse-Tung als ihren großen politischen Führer. Mao aber - so Jung Chang und Jon Halliday in ihrem Buch "Mao - Das Leben eines Mannes - Das Schicksal eines Volkes" - überzog das Land mit Terror, dem 70 Millionen Menschen zum Opfer fielen, und "seine Gedanken kreisten nur um sich und seine Macht".
Dieses Buch ist eine Abrechnung, ein Werk von fast 1000 Seiten, überwältigend in seiner Fülle und Genauigkeit, weniger in der politischen Durchdringung des Materials, überwältigend vor allem in seiner Leidenschaft. Dieses Buch versöhnt nicht, es regt auf und es klärt auf. Es bringt den Mythos Mao auf seinen blutigen Nenner.

Dieser Nenner heißt: 70 Millionen politische Morde, eine Zahl die sich übrigens in etwa deckt mit der im "Schwarzbuch des Kommunismus": 65 Millionen. Die Reaktionen in der Öffentlichkeit damals und auch jetzt waren Fassungslosigkeit und Lähmung. Unversehens werden wir wieder einmal mit dem Urgrund unserer zivilisierten Existenz konfrontiert, mit der "Gefährdetheit und der Gefährlichkeit" der menschlichen Natur – wie es Leo Strauß formuliert hat - und ihrer Machtbesessenheit.

"...seine Gedanken", sagen die Autoren von Mao, " "kreisten ... nur um eines: um sich und seine Macht."

Jung Chang und Jon Halliday eröffnen uns damit den doppelten Boden des Kommunismus, seine vernünftigen Ansprüche und seine abgründige Praxis.

Jede Biographie ist eine Geste der Versöhnung mit der Geschichte. Das ist jedenfalls ihre Funktion. Aber diese Versöhnung, dieses Schlusswort gelingt nicht immer. Dann müssen neue Biographien geschrieben werden - viele, oder auch nur eine einzige. Das Buch von Chang und Halliday ist ein solches Buch. Es zeigt Mao und den von ihm verkörperten Kommunismus in seiner Verworrenheit und Maßlosigkeit.

"...viele hatten gezögert, die Parole "Lang lebe der Vorsitzende Mao" zu skandieren. Ein Zeitzeuge erinnert sich später an seine damaligen Zweifel: "Das war eine Parole für Kaiser. Warum tun wir so etwas? Mir war das unheimlich, und ich weigerte mich, es zu rufen. Dieses unabhängige Reden – und Denken – wurde durch die Kampagne zerstört und durch die Vergötterung Maos ersetzt. Die Verehrung des Vorsitzenden hatte nichts mit spontan eingetretener Popularität zu tun. Sie entsprang dem Terror. "

Schon der in allen kommunistischen Staaten blühende Personenkult dementiert die eigene Ideologie. Nach dieser Ideologie wird Geschichte nicht von irgendwelchen Personen, sondern von den Produktionsverhältnissen bestimmt. Einen Stalin, einen Lenin, einen Pol Pot, einen Mao, als alleinigen agens von Geschichte dürfte es gar nicht geben. Die Biographie eines kommunistischen Herrschers ist daher notwendigerweise ein konterevolutionärer Akt, denn sie erklärt Geschichte biographisch, psychologisch, kulturell. Das gilt ganz besonders für Mao, der sich erratisch, eitel, egoistisch, größenwahnsinnig zeigt, eine Spielernatur, ein kommunistischer Cowboy. Insofern war das ganze Leben des Mao-Tse-Tung ein konterrevolutionärer Akt.

Grundsätzlich müssen wir bei allen kommunistischen Diktatoren und bei Mao besonders fragen, ob und wie sich Person und Ideologie entsprechen. Adorno und Horkheimer glaubten einem F-Faktor auf der Spur zu sein, einem Faschismus-Faktor, der die Kongruenz von Person und Ideologie im Faschismus messen sollte. Entsprechend müsste es dann auch einen K-Faktor geben, einen Kommunismus-Faktor. Und den gibt es tatsächlich. Er ist nur ärgerlicherweise identisch mit dem F-Faktor und heißt Autoritäre Persönlichkeit. Zur autoritären Persönlichkeit gehört, auch bei Mao, viel Sentimentalität.

"...wie immer, wenn bei ihm Gefühle ins Spiel kamen, war das Selbstmitleid nicht fern. Als er die Geschichte seiner Leiden durchging, hatte er mit den Tränen zu kämpfen."

Selbstmitleid und Größenwahn. Hatten wir Deutsche nicht auch so einen ...? Und Mao war beseelt von kindlichen Träumen, von Weltherrschaft und Allmacht.

"Einem ausgesuchten Kreis von Provinzparteichefs sagte Mao am 19. August: "Später einmal werden wir das Weltkontrollkomitee einrichten und einen einheitlichen Plan für die Erde aufstellen."

Mao war – positiv formuliert – ein Visionär, negativ formuliert ein Spinner. Bevor er die ganze Welt unter Kontrolle gebracht haben würde, wollte er als ersten kleinen Schritt China in den Griff kriegen.
"Im Sommer 1958 zwang Mao die gesamte Landbevölkerung in neue und größere Wohn- und Arbeitseinheiten, die als "Volkskommunen" bezeichnet wurden. Das damit verbundene Ziel war, die Sklaventreiberei effizienter zu gestalten.

Mao liebäugelte sogar mit dem Gedanken, den Menschen ihre Namen zu nehmen und diese durch Nummern zu ersetzen. In Henan und anderen Mustergebieten trugen die Bauern bei der Feldarbeit Jacken, in deren Rückenpartie Nummern eingenäht waren. Maos Ziel war es, den 550 Millionen Bauern Chinas ihre Menschenwürde zu nehmen und sie zu einer Art menschlicher Zugtiere zu machen. ... Den Bauern war es nicht nur untersagt zu Hause zu essen, auch ihre Woks und ihre Kochherde wurden zerstört. Die vollständige Kontrolle der Essenszuteilung war eine furchtbare Waffe in der Hand des Staates, und das Vorenthalten von Nahrung wurde zu einer verbreiteten Form "leichter" Bestrafung, die Funktionäre an der Basis verhängen konnten, wenn immer ihnen der Sinn danach stand. "

Eine, vielleicht die entscheidende Frage bleibt: Warum lieben und verehren die Chinesen Mao-Tse-Tung noch heute? Überall hängen seine Portraits, und sein Grabmahl wird von Millionen besucht. Natürlich lieben und verehren die Chinesen ihn weniger, als die Partei behauptet, aber neutrale Umfragen zeigen, dass er sehr viel volkstümlicher ist als in Russland Stalin und weit davon entfernt, so verhasst zu sein wie Hitler in Deutschland.

Die Erklärung ist einfach und schrecklich: Mao hat seine Chinesen ihm wahrsten Sinn des Wortes zu Blutsbrüdern gemacht, hat sie erniedrigt, beschämt, hat sie in den Blutrausch getrieben, um sie als sozialistische Zombies wieder zu erwecken. Er hat die Scham über das massenhafte, das öffentliche, das gemeinsame Morden als hohes Lied partizipatorischer Demokratie gefeiert. Wer bei den Qualen der Opfer mitgejohlt hat, der gehört dazu, der wird mitschuldig, der muss Mao lieben, ob er will oder nicht.

"Der nationalistische Kommandant wurde gefangen genommen und später bei einer Massenkundgebung zur Schau gestellt, bei der Mao eine Rede hielt und die Zuschauer auf Anweisung brüllten: "Hackt ihm den Kopf ab! Esst sein Fleisch!" Dann wurde ihm tatsächlich der Kopf abgehackt, auf einer Tür befestigt,... geschmückt mit einer kleinen weißen Fahne, auf der stand, dies sei ein Geschenk für seinen Vorgesetzten".

Mao hatte die öffentlichen Hinrichtungen nicht erfunden, ergänzte diese scheußliche Tradition aber um eine moderne Dimension, indem er Versammlungen organisierte und so die Hinrichtung zur Pflichtveranstaltung für weite Teile der Bevölkerung machte ... mit ansehen zu müssen, wie Menschen auf blutige und qualvolle Weise getötet wurden, und ihre Schreie zu hören, sorgte bei den Anwesenden für Furcht und Schrecken. "

Als mit dem "Schwarzbuch des Kommunismus" die Fakten auf dem Tisch lagen, gab es gelegentlich das unappetitliche Argument, dass es ja nicht auf die absolute Zahl der Morde ankäme, sondern auf deren Qualität; das sei entscheidend. Nach der Publikation des Buches von Chang und Halliday hörte man dieses Argument nicht mehr. Mit einer Ausnahme. Joscha Schmierer, die rechte Hand unseres noch immer amtierenden Außenministers Joschka Fischer, feiert Mao als Philosophen und verteidigt noch heute die "reflektierte Zeitgenossenschaft Maos im brutalen 20. Jahrhundert".

Jung Chang und Jon Halliday: Mao - Das Leben eines Mannes - Das Schicksal eines Volkes
Aus dem Englischen von Ursula Schäfer, Heike Schlatterer, Werner Roller
Karl Blessing Verlag, München 2005
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