Ein Jahrhundert Kino-Leidenschaft

Von Markus Metz und Georg Seeßlen · 13.02.2008
Gute 110 Jahre alt ist das Medium Film. Von seiner Faszination und von seiner Krisenanfälligkeit hat es wenig verloren. In der Filmgeschichte spiegeln sich politische Verhältnisse und soziale Unruhen, kollektive Neurosen und Sehnsüchte, Ängste und Überzeugungen. Künstler haben triumphiert und sind zugrunde gegangen am Kino, das immer beides zugleich sein wollte, Kunst und Kommerz.
Ein ganz normales Kino zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in das ganz normale Menschen mit ganz normalen Träumen und ganz normaler Neugier gingen, das ist ein Ort, den man sich nur als abenteuerlich vorstellen kann.

"In Schlange treten die Besucher an die Kasse, erwerben ein Billett und stehen eine Minute später im verdunkelten Zuschauerraum. Das Theater ist schmal - eine Sitzreihe hat zehn bis fünfzehn Plätze - dafür aber recht lang. Es macht den Eindruck eines Schlauchs. Es ist wohl seit Tagen nicht gelüftet worden. Das Publikum ist gemischt. Vorderhaus und Hinterhaus, die Herrschaft und die Dienstboten, Taxichauffeure und Portiers. Und sehr viele Schuljungen, obwohl das Betreten Jugendlichen unter siebzehn Jahren verboten ist. Aber der Kontrolleur nimmt es nicht so genau."

So beschreibt der Schriftsteller Curt Riess ein Berliner Kino im Jahr 1912. Fünf Jahre zuvor war das Kino überhaupt erst vom Jahrmarkt in feste Lichtspielhäuser in der Stadt übergesiedelt. Die Menschen, die diesen Schritt wagten, kamen meistens selbst aus der Schaustellerbranche. Für den Film als Kunst interessierten sie sich herzlich wenig, stattdessen lag ihnen daran, dass ihr Publikum sich wohlfühlen, amüsieren und auch ein bisschen austoben konnte.

Einer der Kino-Pioniere war der Münchener Carl Gabriel: ein gestandener Unternehmer unter den Schaustellern auf dem Münchner Oktoberfest, wirtschaftlich und politisch engagiert für seinen Stand und immer auf der Suche nach neuen Attraktionen. So einer musste sich ja in das neue Medium verlieben. Nachdem die "Lebenden Bilder", die er in seinem "Panoptikum" präsentierte, beim zahlenden Publikum gut ankamen, eröffnete er im Jahr 1906 das "Bavaria Bioskop", das erste Kino Münchens.

Ähnliche Etablissements entstanden bald in vielen Stadtteilen. Die meisten von ihnen verschwanden sehr rasch wieder, um von neuen, größeren Lichtspielhäusern ersetzt zu werden. In den frühen Jahren hatte das Kino etwas Nomadisches und Vorläufiges an sich: Oft waren Kinos architektonische und ökonomische Zwischenlösungen, rasch improvisiert und ebenso rasch wieder abgebaut. Der Handel mit gebrauchten Kinoeinrichtungen machte damals mehr Leute reich als die gesamte Filmproduktion. 1907 eröffnete Carl Gabriel in der Dachauer Straße unweit des Münchner Hauptbahnhofs sein zweites Kino: "The American Bio". "Lebende Fotografie" stand über dem Eingang. Es gehört zu denjenigen, die ihren Platz behauptet haben. Bis zum heutigen Tag.

Das Kino - das anfangs "The American Bio" hieß, später "Gabriel Lichtspiele" und das heute "Neues Gabriel" heißt – gilt als das älteste Kino der Welt, das nach wie vor Filme zeigt. Es ist eines der wenigen lebendigen Zeugnisse der Kinogeschichte, auch wenn an das ursprüngliche Kino nur noch die Hausfassade und der sorgfältig gehegte Fliesenboden im Foyer erinnern. Dafür ist die Geschichte in Fotografien dokumentiert. Die heutigen Besitzer, Hans-Walter Büche und seine Tochter Alexandra Gmell, sind sich der historischen Aura des Kinos durchaus bewusst.

Alexandra Gmell: "Der Carl Gabriel war ein Schausteller, er hatte einige Schaubuden und Darstellungen auf dem Oktoberfest wie etwa das Teufelsrad und die Afrika-Schau. Er war der Erste, der in München angefangen hat mit den bewegten Bildern, wie das Kino ja früher hieß. Und dann hat er sich damit niedergelassen unter anderem in der Dachauerstraße 16. Natürlich war das noch schwarz-weiß, Stummfilm mit Klavierspieler und eine Art Ansager, der den Film begleitet hat und die Emotionen für die Leute auch widergespiegelt hat. Es war so, dass die Leute ihr Bier im Krügerl mit ins Kino nehmen konnten."

Hans-Walter Büche: "Die haben damals Ablagetischchen gehabt für die Brotzeit und für das Bier. Das war bald schon wie ein Biergarten, bloß im Dunkeln. Die Filmsequenzen waren kurz, etwa von zehn Minuten Länge, dann kam wieder das nächste - sehr primitiv, aber es war das eine kleine Sensation für damals."

Der Weg vom Oktoberfest zum "American Bio" war in jeder Hinsicht kurz. Der Kinoerzähler war derselbe, der auf dem Oktoberfest die Leute zu den Geheimnissen im Afrika-Zelt rief. Man konnte nicht nur seinen Bierkrug und eine Brotzeit mitbringen, man konnte mit der selben wohligen Ungeduld von einer Sensation zur anderen drängen: hier ein Boxkampf, da ein Besuch des Kronprinzen, ein technisches Wunderwerk nebst einem katastrophalem Absturz. Und zwischendrin auch schon mal etwas Gewagtes: ein frecher Kuss auf der Parkbank oder "Susanna im Bade".

Schon bald genügten diese kleinen Sensationen nicht mehr, um das Publikum anzulocken. Das Kino begann, Geschichten zu erzählen. Und es brachte seine eigenen Stars hervor. Schritt für Schritt entfernte es sich vom Jahrmarkt und näherte sich einer eher bürgerlichen Institution an. Martin Loiperdinger, Filmhistoriker:

"Kino und Film waren ursprünglich ein Volksvergnügen auf dem Jahrmarkt. Ab 1906 gibt es ortsfeste Kinos, der Film ist da eher ein zweidimensionales Varieté. Er macht dem ernsthaften Sprechtheater mit seinen Dramen, Tragödien und seiner erbaulichen Wirkungsabsicht und seiner bildenden Absicht noch keine Konkurrenz. Das ändert sich ab 1911/12, als immer größere Kinos, Kinopaläste, eingerichtet werden, und die Kinobesitzer vor allem auch die zahlungskräftigeren Zuschauerschichten erreichen wollen. 1913 ist das sogenannte ‚Jahr des Autorenfilms’, da werden bereits Stücke von angesehenen und berühmten Schriftstellern wie Gerhart Hauptmann und Arthur Schnitzler verfilmt. Da erhebt der Film Kunstanspruch und zwar aus ökonomischen Gründen. Es gibt keinerlei Förderung oder dergleichen und der Kunstanspruch dient dann eher dazu, die Filmware, die angeboten wird zur Unterhaltung, zu nobilitieren."

Büche: "Und das hat sich dann immer gesteigert: die Qualität wurde besser und so ging es dann halt langsam aufwärts bis zum Tonfilm. Und dann ist das natürlich alles richtig Kino-mäßig geworden..."

Alexandra Gmell: "Wobei Carl Gabriel gesagt hat, er tut dem Tonfilm nicht viel Geschichte zusprechen, das wird kein Erfolg werden."

Es war die Zeit, in der München sich neben Berlin zur zweiten großen Filmstadt Deutschlands entwickeln wollte. Unter dem Dach der "Münchner Lichtspiel-Kunst AG", kurz EMELKA, entstanden nicht nur alpenländische Phantasien nach Ludwig Ganghofer, Wildwestgeschichten aus den Isarauen oder Detektivserien, sondern auch ambitionierte Filme wie "Waterloo" von Karl Grune oder "Nathan der Weise" von Manfred Noa. In den Jahren von Inflation und Wirtschaftskrise träumte beinahe jeder in München vom Filmemachen. Arbeitskräfte waren billig, und Unterhaltung brauchten die Menschen auch gerade in schweren Zeiten.

Auch Carl Gabriel, der mittlerweile vier Kinos besaß, träumte vom Filmemachen. Er war nicht der einzige seines Standes, der in der Auseinandersetzung mit den mächtigen Berliner Filmbossen von einer eigenen Filmkultur schwärmte, in der die Kinos nicht mehr dem Verleihdiktat der Ufa gehorchen müssten. So wie man ja auch auf dem Oktoberfest sein eigenes Programm haben konnte.

Büche: "Es war dann ein Geplänkel mit der Ufa, das ging halt so hin und her. Gabriel wollte einen eigenen Filmverleih und auch eine eigene Produktion machen. Und ich glaube, er hat auch ein bisschen mitgewirkt, aber er ist ja dann um 1930 herum gestorben. Irgendwann war es vom Physischen her vorbei, weil er einfach krank war. Und so ging das einfach nicht mehr weiter. Aber wenn er noch länger gelebt hätte, hätte er bestimmt weiterproduziert und wäre wahrscheinlich ein richtiger Produzent geworden."

Was den Träumen von der Filmstadt München ein Ende bereitete, war die Währungsreform, die das Filmemachen mit einem Schlag verteuerte und es war eine erst kleinkarierte und sittenstrenge, dann zunehmend unter vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Nationalsozialisten operierende Zensur. Dazu kam die notwendige Umstellung auf den Tonfilm und schließlich die Übermacht der Universumfilm AG, der Ufa.

Auch die Kinobetreiber verloren ihre Träume von einer eigenständigen Filmkultur. Sie mussten dem Diktat der Verleiher folgen und sie folgten dann, im Kino unter dem Hakenkreuz, den politischen Vorgaben. Ein Ort des Widerstandes waren die Traumräume des Kinos ganz gewiss nicht.

1937 kamen die Gabriel Lichtspiele in der Dachauerstraße in neue Hände.

Büche: "Meine Großeltern in Ingolstadt waren schon eine alte Kinofamilie und in Amberg in der Oberpfalz hatten sie auch Kinos. Ingolstadt war halt ein bisschen provinziell und das Angebot war da, weil die Erben vom Gabriel - der hatte 32 Erben aber keine Kinder - die haben dann herum gestritten. Durch einen Makler haben meine Großeltern dieses Angebot erhalten, das Gabriel zu kaufen. Sie sollten eigentlich das "Sendlinger-Tor-Kino" auch noch mitkaufen, aber das war natürlich eine Hausnummer zu groß. Heute würde man sagen: Großvater, warum hast du es nicht gemacht? Kurz und gut: die haben auf jeden Fall das hier erworben und dann ging es quasi in München los."

Büche: "Im Krieg auch hat das keinen richtigen Einfluss gehabt, man hat das einfach die Filme gespielt, die man bekommen hat. Da wurde damals nicht gefragt, Politik hin oder her. Man hat geschaut, dass ein vernünftiger Film kam und der einfach lief. Man war ja Kaufmann, das war nicht nur eine ideelle Geschichte, sondern eine kaufmännische Geschichte - das musste laufen. Amerikanische Filme waren ja fast nicht zu kriegen, also was hat man gespielt, das was da war. Und das lief auch gut. Die Leute haben nichts anderes vorgesetzt bekommen, also haben sie das konsumiert, was sie bekommen haben."

Filmhistoriker Klaus Kreimeier: "Man muss sich eines vergegenwärtigen: Im Kriegswinter 1941/42 und im Stalingrad-Winter 1942/43 gab es den absoluten Besucherrekord im deutschen Kino. Die Rekordmarke stieg erstmals und dann nie wieder über 1 Milliarde Kinobesuche in Deutschland innerhalb eines Jahres. Heute machen 100 bis 150 Millionen Zuschauer ein erfolgreiches Jahr aus."

Alexandra Gmell: "Die Oma hat erzählt, das im Krieg die Soldaten im Hertie stationiert waren und dann viel auch gespielt wurde für die Soldaten."
Hans-Walter Büche: "Ja, ja, gegen Ende des Krieges wurden die im leeren Hertie Soldaten untergebracht und die mussten ja beschäftigt werden. Trotz Bomben und so weiter mussten die also spielen, damit die Soldaten irgendwie eine Ablenkung hatten, es mußte ja die Moral ein bisschen aufrechterhalten werden. Kurz und gut, man kann schon sagen, es war ein Soldatenkino, die konnten für fünf Pfennig einen Film anschauen."

Am Ende des Zweiten Weltkrieges blieb das Gabriel in der zerbombten Münchner Innenstadt nur kurze Zeit geschlossen. Man hatte vorsorglich die Projektoren in Sicherheit gebracht. Es war, als hätte sich ein persönlicher und ökonomischer Lebenswille zäh an dieses Kino und seine Technik gebunden.

Büche: """ Die Projektoren, wenn die kaputt gewesen wären durch irgendwelche Bombeneinflüsse, dann wäre nach dem Krieg in den ersten Jahren nach dem Krieg gar nichts gewesen, weil da gab es ja nichts. Also wurden die Maschinen abgebaut und versteckt. Das war zwar ein gewisses Risiko wegen Wehrkraftzersetzung, also wurde das so definiert, die Maschinen sind kaputt und hat sie abtransportiert. Das waren dann vielleicht noch drei bis vier Wochen, dann, bum, war der Krieg aus. Und sofort wurden die Projektoren wieder installiert und es ging ziemlich nahtlos weiter. Aber natürlich war die Decke kaputt, rundherum kaputt, und Schutt und Asche, aber es lief wieder.

Die Leute kamen wie die Ameisen aus dem Bau und haben weitergemacht, das war schon eine verrückte Zeit. Das Haus war ja bis zur Hälfte weg, oben hat es reingeregnet. Also wurde das schnell zugedeckt, hinten das Kinodach auch war kaputt. Das wurde provisorisch zugemacht – zack, zack, ging’s weiter. Das lustige ist, wo kamen die Filme her? Ich frage mich heute noch, was die zum Anfang gespielt haben, wahrscheinlich haben sie alte Klamotten rausgezogen, die irgendwo noch da waren, vielleicht war nicht alles kaputt. Es ist verrückt, wie die Leute sich so schnell beholfen hatten. Auch meine Eltern, besser meine Mutter - mein Vater war in Gefangenschaft, in Berlin oben irgendwo, kurz in Russland. Also hat sie alleine mit den Großeltern weitergewerkelt. Es ist erstaunlich, wie die Leute durchhalten konnten nach diesen langen Jahren der Entbehrungen."

Dann, in den Jahren von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, erlebte der deutsche Film seine Blüte. Heimatfilme, Komödie, Melodramen und schon bald auch wieder Kriegsfilme lockten ein Millionenpublikum an. Maria Schell weinte, Romy Schneider lächelte und Ruth Leuwerick war vernünftig. Hansjörg Felmy strahlte, Horst Buchholz bockte und Heinz Erhardt sang.

Nicht alle Kinos profitierten gleichermaßen von diesem Boom. Für ein kleineres Kino wie das Gabriel hieß das, sich eine Nische suchen zu müssen. So kam es, dass ein solches Kino aus purer wirtschaftlicher Not heraus dazu beitrug, Filmgeschichte zu schreiben. Nicht in den großen Erstaufführungskinos, sondern in einem Kino wie dem Gabriel konnte die erste Generation westdeutscher Cineasten Filmerfahrungen jenseits von Papas Kino machen.

"Wegen Kirk Douglas radelte ich ich nachts durch das zerbombte München, um mir immer wieder in der Spätvorstellung "Liebe, Rhythmus, Leidenschaft" reinzuziehen. Es war die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Jazztrompeters, Kirk Douglas blies mit Leidenschaft ins Horn, erklomm immer höhere Tonlagen (die Trompete spielte Harry James), bis ihm die Luft ausging. Der Film hieß im Original ‚Young Man with a Horn" und natürlich wurde der Held am Ende durch eine Frau ruiniert."

So erinnert sich Adolf Heinzlmeier an seine freitagabendlichen Besuche in den kleineren Kinos, die statt der deutschen Schnulzen amerikanische B-Pictures zeigten.

"Wir nannten diese Kultstätten "Revolverkinos", weil dort regelmäßig Western, Piraten- oder Gangsterfilme gezeigt wurden. Was uns damals interessierte, kam aus Amerika. Revolvermänner, die den Colt blitzschnell wirbeln ließen und ihre Treffsicherheit an Blechbüchsen demonstrierten, Louis Armstrong, Dizzie Gillespie und Jazz in allen Stilarten, regennasse nächtliche Gangsterballaden mit Humphrey Bogart oder Kirk Douglas, in denen die Helden im Rinnstein endeten, weil immer Verrat im Spiel war."

Büche: "”Am Stachus waren einige große Kinos einschließlich des "Mathäser", das gab es ja damals auch schon, das war ein Riesending und hat natürlich die die erste Geige gespielt und die rund herum auch. Wir waren ein bisschen hintendran, wir mussten eigentlich immer die Filme nehmen, die die anderen nicht wollten. Dadurch kamen wir zu amerikanischen Filmen wie die mit Jerry Lewis, die die anderen einfach nicht wollten. Die haben gesagt, amerikanische Filme interessieren uns nicht. Die waren ein guter Erfolg! Nachdem das gut funktioniert hatte, haben die anderen natürlich auch Jerry Lewis gespielt und wir haben sie wieder nicht mehr bekommen. Was haben wir gemacht? Wir haben versucht, französische Filme zu spielen. Und nachdem die französischen Filme bei uns gut liefen, haben sie die anderen auch gespielt. Wir waren ein bisschen kleine Vorreiter."

Aber auch damit waren die nächsten Krisen in den sechziger Jahren nicht abzuwenden. Die Städte veränderten sich gewaltig: alles war in Bewegung, mit dem Zusammenhang der Stadtviertel verschwand jenes Stammpublikum, das sich im heimeligen Kino um die Ecke getroffen hatte. Und es verschwanden die Jungs, die nachts durch die Stadt radelten, um Jerry Lewis oder Lino Ventura zu sehen. Natürlich trug auch das Fernsehen zur Krise der Kinos bei.

Filmhistoriker Klaus Kreimeier: "Das Fernsehen spielt da eine gewisse Rolle, aber es wäre verkürzt zu sagen: das Fernsehen hat die einschneidende Kinokrise Ende der Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre herbeigeführt, von der sich das Kino nie wieder erholt hätte. Das Fernsehen steht in einem Ensemble sehr unterschiedlicher Entwicklungen im Freizeitbereich der Menschen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, wobei der Bereich der Freizeit durch ökonomische Entwicklungen wie das sogenannte Wirtschaftswunder, aber auch internationale Entwicklungen ein neues Gewicht erhielt. Hier spielten die Medien eine große Rolle, aber auch der Tourismus, die neue Mobilität der Menschen, weil sie jetzt mit Motorrad und Auto am Wochenende losbrausen konnten und nicht mehr ins Kino gingen. Der Freizeitbereich wurde zu einem ökonomischen Faktor und entfaltete sich vielfältig. Das Fernsehen siedelte sich in diesem Bereich natürlich sehr erfolgreich an und veränderte die Häuslichkeit der Menschen, ihr Verhältnis zu Bildern, zu Medientechniken, ihr Kommunikationsverhalten und unter anderem auch ihre Gewohnheit, was das Kino betrifft."

Das Gabriel, in direkter Bahnhofsnähe gelegen, verlegte sich in dieser Zeit auf Laufkundschaft und bot Filmprogramme, die man zwischen Fabrik und Heimweg oder vor der Abfahrt des Zuges einschieben konnte.

Büche: "In sämtlichen den Bahnhöfen Deutschlands gab es die Aktualitätenkinos, die Akis, die haben in der Regel fünf Wochenschauen, einen Kulturfilm und einen Zeichentrickfilm gespielt. Diese Zeichentrickfilme, das waren zum Beispiel Tom und Jerry-Filme u. ä., das war damals etwas Besonderes: Viele gingen nur wegen er Zeichentrickfilme in die Aktualitätenkinos. Meine Eltern damals, weil sie gar nicht mehr wussten, was sie machen sollten, haben 10 oder 12 Tom und Jerry-Filme zusammengestellt und damit ohne Plakat o.ä. ein eigenes Programm gestaltet. Und das lief wie die Feuerwehr. Was war dann? Das nächste Arrangement haben die Verleiher selbst gemacht, das haben wir nicht mehr bekommen, sondern die großen Kinos."

Und so kam schließlich die schummrige Sexfilm- und später die Porno-Zeit für die Gabriel Lichtspiele.

In den Siebzigerjahren mussten sich viele Kinos mit der anrüchigen Ware über Wasser halten. Den meisten Kinobetreibern sind diese Jahre eher peinlich. So klafft nicht nur in unserer Film-, sondern auch in unserer Kino-Geschichte eine Lücke. Dabei steckt doch auch in diesem Kapitel eines der ureigensten Mittel des Kinos, so Filmhistoriker Klaus Kreimeier:

"Das Thema Sexualität ist fast eine Wurzel des Kinos überhaupt - die Sexualität, die Triebhaftigkeit des Menschen und die Versuche, seine Triebhaftigkeit in den Griff zu kriegen, zu zähmen und zu sublimieren. Das Kino findet auf alles Antworten. Gerade auf die Sublimierungsstrategien, die die Kultur entwickelt hat, findet der Film alle möglichen Angebote in seinen Dramaturgien, in seinem Personal, in den Geschichten, die er erzählt. Und genauso bietet er Scheinlösungen für ungehemmte Triebentfaltung an, also das sogenannte Pornokino.

Das ist alles schon embryonal angelegt in den allerersten Filmen überhaupt, die gedreht wurden. Da finden Sie beide Strömungen latent schon entwickelt. Ein schönes Beispiel sind die Sittenfilme nach 1918/19: Richard Oswald spielte da eine Rolle mit seinen Aufklärungsfilmen, aber eben auch mit seinen Filmen mit Anita Berber, die dicht an der Pornographie gelegen haben. Ich weiß nicht, ob das immer zurückzuführen ist auf ökonomische Krisen, die begleiten die Entwicklungsgeschichte des Kinos bis heute. Das Medium selbst ist, und deshalb lieben wir es so, eine krisenhafte Angelegenheit und enthält in nuce die ganzen Aporien und auch die Katastrophen der Moderne."

So ist auch diese Porno-Phase nichts, wofür sich das Gabriel schämen müsste. Was seine Besitzer glücklicherweise auch nicht machen.

Gmell: "Angefangen hat es mit diesen Helga-Filmen, dann kamen die Schulmädchen-Reports. Und dann wurde immer noch eins draufgesetzt – ich weiß nicht, ob es sich jetzt immer noch weiterentwickeln kann. Mein Vater hat ja auch die sanfteren deutschen Softpornos gezeigt. Die Leute kamen, und es waren angenehme nette Menschen. Man denkt ja immer: Wer schaut sich Pornos an? Es waren sehr angenehme und nette Leute, wirklich. Und mein Vater sagt auch immer: es waren alle Prominenten da, die man sich zu dieser Zeit vorstellen konnte. Jeder war da, von A bis Z."

Die Zeit des Porno-Chic freilich verging ebenfalls. In den achtziger Jahren fand diese Attraktion erst einmal Heimstatt in den Videotheken, die inzwischen so instabil und nomadisch eröffnet und wieder geschlossen werden wie damals in den zehner Jahren die Kinos.

Wie für viele Kinos stellte sich Ende der Achtzigerjahre auch für das Gabriel die Frage: Schließen oder Neu beginnen? Der Anstoß für den Neubeginn kam aus Amerika. Bei einem Besuch in den USA nimmt Hans-Walter Büche verblüfft zur Kenntnis, wie ein Film wie "Jurassic Park" die Kinos füllt. So beschließt er, auch sein Theater wieder zu einem Familienkino zu machen. Das Gabriel-Kino wird technisch und kulturell neu erfunden.

Gmell: "Und eben 1994 dann, der Umbau vom Erotikkino, d.h. alle Sitze raus, neue Sitze rein, die neueste Technik, die auch immer wieder erneuert wird. Viele Leute, die angerufen haben, fragten: Ihr wart doch das Erotikkino? Ja. Habt ihr auch die Sitze erneuert? Habt ihr die Sitze ausgetauscht, habt ihr sie geputzt. Anwort: Ja, wir haben sie komplett erneuert. Es ist alles neu, es ist kein Schmutz von früher dageblieben. Alles Erotik raus und Familie rein."

Auf anfängliche Erfolge mit amerikanischen Blockbustern wie "Forrest Gump" folgen neue Krisen. Aber die übersteht eine angeblich so anachronistische Unternehmensform wie ein Familienbetrieb leichter als es die großen Unternehmen tun. So lebt das Gabriel heute einerseits, weil es die Pressevorführungen für die Zeitungen und Sender in der Stadt ausrichtet. Und andrerseits weil es ein Publikum gibt, dem der Trubel in einem Multiplex zu viel ist: Zuschauer, die in einem Kino nicht allein die Filme, sondern auch den magischen Ort suchen.

Gmell: "Wir hier am Hauptbahnhof haben wenig Laufkundschaft und auch sehr viel Stammpublikum. Wir sind dasselbe wie die Stammkneipe: das Stammkino. Und man hofft, dass, wenn die Leute einmal bei uns waren, es ihnen so gut gefallen hat, dass sie wieder kommen. Nach der Eröffnung des "Mathäser" haben wir gar kein junges Publikum mehr, unser Publikum, das geht erst ab 25, 27 Jahren aufwärts. Das sind die, die Individualität wollen, die wollen mal ein Bierchen trinken und sie dürfen es auch im Glas mit reinnehmen ins Kino. Wir haben jetzt im großen Kino 208 Sitzplätze und eine 41 Quadratmeter-Leinwand, das ist im Verhältnis optimal. Es sind zwölf Reihen, wir hätten durchaus noch einige mehr reingebracht. Aber so kann man gut sitzen und hat viel Beinfreiheit. Unser zweites, kleineres Kino hat nur 4 Reihen – natürlich hätten wir da mehr reingebracht – und eine 21 Quadratmeter-Leinwand und man kann wirklich sehr schön sehen. Der Einzelne ist bei uns König, so versuchen wir es zu machen."

Ein Biotop für Cineasten, technologisch auf dem neuesten Stand und doch ganz nahe an Carl Gabriels "American Bio" mit seiner Biergarten-Wohlfühlatmosphäre und familiärer Nähe zum Publikum. Vielleicht kann ja auch so die Zukunft des Kinos aussehen.

Gmell: "Der Traum ist natürlich: jeden Tag volles Haus, ausverkauft. Ganz klar. Es wird aber leider so sein, dass einigen Kinos in München die Luft ausgehen wird, wenn es so weitergeht wie bisher. Wir haben den Vorteil, dass wir im eigenen Haus sind, wir müssen keine Pacht zahlen, was bis jetzt auch der Vorteil war, sonst wären wir schon längst nicht mehr da. Das muss man ganz klar sagen. Ich möchte weitermachen, mich hat das Kinofieber auf jeden Fall erfasst. Man muss sehen, ob es sich rentiert, weil sonst muss man sich was anderes einfallen lassen, dann kommt hier vielleicht der Tengelmann rein oder der Spar oder der Kade oder sonst irgend was. Was ich aber nicht hoffen will, ich bin jetzt die vierte Generation und ich habe die Energie, dass ich eigentlich weitermachen möchte."

Dass auch heute wieder Kinos verschwinden, lieg nicht allein an neuer Konkurrenz – die DVD und das Hightech-Heimkino sind diesmal die Schuldigen. Sondern auch daran, dass sich die Städte wieder verändern und in ihnen weder Raum noch Zeit mehr bleibt, um das Kino zu füllen. Alexander Kluge beschreibt das in seinem Text "Großes Kino, verschwunden wie nach einer Abtreibung":

"Der Komplex der neuen Bahnstation, welche die Intercity-Schnellzüge mit der von ihnen nicht mehr direkt berührten Großstadt verbindet, war von einer Infrastruktur umbaut. In dieser Struktur gab es neben Einkaufs- und Hotelkomplexen ein Cinelux-Gebäude. Das Cinelux war aber schon bald umgewidmet und dem Kaufhof zugeschlagen worden. Es war als Kinozentrum nicht zum Leben zu bringen gewesen. Man hätte den Leuten noch etwas bezahlen können, und sie hätten die Zeit nicht erübrigt für ein 90-Minuten-Kinoerlebnis. Nicht in der konzentrierten Zeit, die das Leben dieses Verkehrszentrums bestimmte. Noch ist die Neonschrift Cinelux auf dem Dach des Gebäudes installiert und nachts in Betrieb."

Kinokultur, zu den Zeiten von Carl Gabriel und heute, scheint immer ein schönes Durcheinander von Aufbruchsstimmung und Zerfall zu sein. Kinos können so sehr magische Räume für gemeinschaftliche Erlebnisse sein wie öde Orte von herzzerreißender Verlassenheit.

Vielleicht wäre schon etwas gewonnen, wenn wir diesem Ort namens Kino in unserem kulturellen Gedächtnis einen größeren Stellenwert einräumten. Noch trauriger ist als ein leeres Kino ist ein Kino, dessen Geschichte man vergessen hat.