Ein Jahr nach der Dresdner Rede

Sibylle Lewitscharoffs Wiedergeburt mit Dante

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff am Rednerpult bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises.
Sibylle Lewitscharoff ist mit ihrer Aussage zu künstlich gezeugten Menschen zurückgerudert. © dpa picture alliance / Andre Hirtz
Von Isabella Kolar · 01.03.2015
Vor einem Jahr geriet die Autorin und Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff in die Schlagzeilen: In ihrer Dresdner Rede kritisierte sie mit drastischen Worten die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin. Und heute? Ein Hausbesuch.
Man kann das Murmeltier bemühen oder aber den Philosophen Sören Kierkegaard:
"Nur der wird recht glücklich, der sich nicht selbst in der Einbildung betrügt, die Wiederholung sollte etwas Neues sein, denn dann wird man ihrer überdrüssig."
Nicht neu und Überdruss auslösend sind für die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff mittlerweile die Fragen nach ihrer Dresdner Rede:
"Na ja, ich bin schon ein bisschen gebrannt schon, weil also der Sturm war ja zunächst einmal sehr heftig und ich habe ja mit gar nichts rechnen können, weil in Dresden die Rede sehr positiv aufgenommen wurde. Da kam ja kein Fünkchen Kritik während der Sache selbst. Da stand die Rede ja auch im Gesamtkontext. Es ging ja hauptsächlich auch um den Tod. Da hat sich ja niemand drüber aufgeregt oder um das Sterben eigentlich. Ich bin insofern ein bisschen gebrannt, nicht gebrannt aus Angst. Ich bin kein Feigling, das bin ich wirklich nicht, aber ich habe keine Lust. Das zehrt so an den Nerven, solche Schlaggewitter da loszueisen, das stört hauptsächlich die Arbeit. Es funkt unglaublich dazwischen, zwischen dem, was ein Schriftsteller ja eigentlich tun sollte."
Neben dem Drehen der obligatorischen "Entschuldigungsschleifen" – wie sie das nennt – kreist ihre Arbeit seit anderthalb Jahren um die "Göttliche Komödie" und ihren Schöpfer Dante Alighieri, den mittelalterlichen Höllenpoeten und Welterfinder in seinem 750. Geburtsjahr.
"Dante wurde von verschiedenen Seiten in Anspruch genommen und jede starke Krise, die eine Gesellschaft trifft – so war es auch nach dem ersten Weltkrieg übrigens bei uns, da war ein Dantefeuer wieder entbrannt. Der Dante ist schon ein Text für krisengeschüttelte Situationen. Wenn man überhaupt alte Texte noch lesen will."
Hölle und Fegefeuer überspringt Lewitscharoff gerne
Der Überdruss ist in Sekunden abgeschüttelt, die Augen glänzen, Sibylle Lewitscharoff schenkt Tee ein und befördert das Gegenüber durch das Jenseits schnurstracks ins himmlische Paradies. In Dantes Paradies, Hölle und Fegefeuer überspringt sie gerne. "Es beginnt furchtbar und hässlich und endet mit dem Schönen und Wünschenswerten" – so beschreibt Dante selbst seine "Commedia". Für viele, unter ihnen Bertold Brecht, ist er vor allem der Dichter der Hölle und des Exils. Nicht für die studierte Religionswissenschaftlerin:
"Man muss vorsichtig sein: Also die 'Commedia' hat drei Teile. Und der dritte Teil, der wird immer so gerne unterschlagen. Dabei ist das ein königlicher anderer Teil, wo es wirklich in die große Freiheit der Paradiessehnsucht geht. Man versteht die 'Commedia' nicht, wenn man nur den ersten Teil immer vor Augen hat, wo es so drastisch zugeht. Es gibt wirklich diese ganz anderen Teile. Schon im Läuterungsberg wird es schon ein bisschen gemütlicher. Aber die Schönheit ist auserlesen auch in den Versen, wenn es Richtung Paradiso geht. Wunderbar auch in der Rhythmik. Große Klasse."
Es ist ein zerrissenes Land, in dem der Florentiner Dante ab 1265 lebt. Es herrschen Gier, Wucher, Machtmissbrauch. Die Kaisertreuen bekämpfen die Papsttreuen, Krieg, Krise, Verlust von Orientierung prägen die Zeit. Dante antwortet - schon im Exil - mit seiner kompakten Welt von Gut und Böse. "Nestbeschmutzung" nennt Machiavelli Dantes Abrechnung mit der florentinischen Gesellschaft, Goethe spricht angesichts der Grausamkeit des Infernos von "widerwärtiger, oft abscheulicher Großheit". Primo Levi dagegen schreibt später, er habe Auschwitz auch dank seiner Erinnerung an die "Divina Commedia" überlebt: "Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren".
Dante-Symposien in Kriegsgefangenenlagern
"Ich arbeite gerade darüber, wie in den Gefangenen- und Konzentrationslagern Dante gehandelt wurde. Da war das plötzlich die hochaktuellste Schrift überhaupt des Literarischen. Natürlich die Höllenversionen von Dante. Es gab in Kriegsgefangenenlagern Dante-Symposien unter freiem Himmel, wo ein italienischer Professor, der mitinhaftiert war, vor den zerlumpten Gefangenen saß und über Dante sprach. Also da kann man merken – auch wenn man Primo Levi liest, die Erinnerungen, da ist das ganz stark alles, das ist nicht so lange vergangen. Damit will ich nur sagen, auch in jüngerer Zeit war dieser Text noch hoch aktuell. Er ist es im Moment nicht mehr. In der heutigen Bildungswelt ist er den Deutschen entglitten, was ich für sehr schade halte."
Und Sibylle Lewitscharoff schreibt dagegen an. Ihr Dante-Roman "Das Pfingstwunder" soll im kommenden Jahr erscheinen.
"Es ist ein Dante-Kongress in Rom. Der in einem wunderbaren Saal stattfindet, nämlich bei den Maltesern auf den Aventinischen Hügeln. Und man blickt von einer Fensterfront aus auf die Kuppeln des Vatikans und dort versammeln sich Dante-Forscher aus aller Welt. Und das ist ein großer Kongress und in dem Moment, wo die Glocken des Vatikans das Pfingstfest einläuten kommen diese Dante-Forscher alle ungeheuer in Schwung und es erneuert sich ein Sprachwunder pfingstlicher Art. Aber anders als in der Bibel ist es umgekehrt: Ein Chinese, der chinesisch spricht, wird plötzlich von einem Griechen verstanden, der kein chinesisch kann. Also anders herum als die Bibel. Aber alles auf der Dante-Folie ereignet sich. Das ist ein großes Wunder. Einer ist übrig geblieben und der erzählt. Der Chronist. Ein trauriger Chronist."
Die Sonne scheint ins Zimmer. Es ist jetzt wieder Zeit für den Tee. Das Murmeltier liegt im Bau, Dante auf dem Schreibtisch. Oder mit Sören Kierkegaard:
"Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden."
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