Ein Jahr nach dem Anschlag in Barcelona

Die weltlichen Wurzeln des religiösen Hasses

In einer unübersichtlichen Straßenszene führen Polizisten einen Mann, der sich eine Jacke über den Kopf gezogen hat, aus einem Haus ab.
Im katalonischen Ripoll verhaftet die Polizei einen Tatverdächtigen. © imago/Robin Townsend
Von Ralf Hutter · 17.08.2018
Nach dem Anschlag in Barcelona vor einem Jahr war die Öffentlichkeit schockiert darüber, wie jung und unauffällig die Täter waren: Was hat sie dazu motiviert? Ein Kommentar von Ralf Hutter.
Das Umfeld der Täter war völlig fassungslos. Die Jungs aus dem nordkatalanischen Städtchen Ripoll waren sehr religiös geworden, das war klar. Doch was brachte sie dazu, große Bombenattentate vorzubereiten?

Was machte die Täter so empfänglich für den Hass?

Als gesichert kann gelten, dass acht junge Männer, die zum Teil sogar minderjährig waren, von einem Imam zu Attentätern gemacht wurden. Er hatte sie in Ripoll bei heimlichen Treffen mit dem schlimmsten Fanatismus infiziert.
Zahlreiche Menschen stehen am 19.08.2017 auf der Flaniermeile Las Ramblas in Barcelona (Spanien) im Kreis um niedergelegte Blumen und Kerzen. Auf der Straße war am 17.08. ein Lieferwagen in eine Menschenmenge gefahren. Bei dem Terroranschlag auf der Promenade wurden mindestens 13 Menschen getötet und zahlreiche verletzt. (zu dpa "Kerzen, Blumen und Stofftiere - Barcelona gedenkt der Terroropfer" vom 19.08.2017) Foto: Matthias Balk/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++
Ungläubiges Entsetzen und tiefe Trauer: Nach Terroranschlag in Barcelona.© dpa
Aber warum waren seine Opfer dafür so empfänglich? Warum ließen sie ab vom Musikhören und Alkoholtrinken? Warum interessierten sie sich nicht mehr für Frauen, Fußball und Autos?

Sie waren jung, gebildet, sozial unauffällig

Die Frage, was junge Leute in Europa zu mörderischem Fanatismus bringt, stellt sich in Ripoll besonders drängend, denn diese Attentäter waren eher untypisch: Sie waren jünger, gebildeter und sozial unauffälliger, als es dschihadistische Attentäter in Europa üblicherweise sind. Sie waren in Katalonien aufgewachsen, sprachen Katalanisch, galten als integriert, nett und ruhig. Nur einer hatte schon Straftaten begangen. Ethnischen Vorurteilen waren sie natürlich begegnet, schließlich stammten sie aus marokkanischen Familien.
Aber handfeste Diskriminierungen wurden nicht berichtet. Das Massenmordkomplott nur auf religiöse Verblendung und Hass auf die Gesellschaft zurückzuführen, ist da kein befriedigender Erklärungsansatz. Warum sollten sie sich von einem Imam so verführen lassen?

Verstrickt im Verschwörungsglauben

Wir kommen wohl weiter, wenn wir weltliche Begriffe wie Verschwörungsglaube und Kampf für Gerechtigkeit in die Analyse miteinbeziehen. Es gibt da drei Indizien, die wenig Beachtung gefunden haben.
So berichtete eine große spanische Zeitung über den letzten Besuch von zweien der Attentäter in Marokko. Der spätere Hauptattentäter soll zu einem Bekannten gesagt haben, wir würden alle betrogen, er aber habe nun die Wahrheit entdeckt, für die die meisten Menschen nicht bereit seien.
Wir werden betrogen? Rein religiöse Fanatiker würden wohl eher sagen, die Ungläubigen lebten in einem Irrtum, seien verblendet, des Teufels. Das so unkonkret dahingeraunte Wort "betrügen" deutet hingegen auf mächtige böse Akteure hin, auf eine riesige Verschwörung.
Das zweite Indiz: Einer der Minderjährigen zeigte seinem fünf Jahre älteren Bruder einmal ein Online-Video, in dem israelische Soldaten auf palästinensische Jugendliche schießen.
Drittes Indiz: Die Lebensgefährtin dieses großen Bruders berichtet der Polizei, der Junge habe mal gesagt, alles sei von den Juden kontrolliert.

Der vermeintliche Kampf für das Gute

Vielleicht können wir die Mörderjungs aus Ripoll nur verstehen, wenn wir ihnen einen vermeintlichen Kampf für das Gute unterstellen, der sich nicht nur auf religiösen Glauben, sondern auch auf weltliche Argumente stützt.
Verschwörungsglaube ist eines der dominanten politischen Phänomene der europäischen Moderne. Seit die Menschen nicht mehr direkte Untertanen sind, sondern die Reichen und andere Mächtige durch die Vermittlungsinstanzen Markt und Staat herrschen, macht sich die Masse der Menschen diverse Wahnvorstellungen über die wahren Hintergründe des politischen Geschehens.
Gesellschaftskritik-Anfänger stürzen sich heute gern auf Israel. Der israelische Soldat als Handlanger der Mächtigen gegen die wehrlosen Massen ist nicht nur in muslimischen Kreisen ein beliebtes Feindbild, das Stellvertretercharakter hat. Auch die Attentäter von Ripoll dachten offensichtlich – neben ihrer religiösen Verblendung –, sie kämpften gegen eine Verschwörung weltlicher Mächte.

Die Verlogenheit des Establishments

Diesen Impuls der aufbegehrenden Jugend gegen die Verlogenheit des Establishments müssen wir wahrnehmen, sonst werden wir das Phänomen der sich in Europa radikalisierenden jungen Muslime und des nicht totzukriegenden Antisemitismus nicht begreifen.
Der heutige muslimische Glaubenskrieg ist nicht einfach nur religiös begründet. Viele europäische Dschihadisten haben nur geringe Kenntnisse des Islam.

Ein anderes Gesellschaftssystem

Dummerweise kann sich diese Kritik an einer ungerechten, verlogenen Welt nicht nur auf Pseudo-Belege berufen. Leider haben wir uns daran gewöhnt, dass die Regierenden immer wieder lügen. Viele Menschen akzeptieren ein Wirtschaftssystem, in dem es normalerweise nützlich ist, unmoralisch zu handeln.
Wer Verschwörungsglauben und den ganzen daraus folgenden Irrationalismus, bis hin zu Attentaten, abschaffen will, der muss sich für ein anderes Gesellschaftssystem einsetzen.

Ralf Hutter ist studierter Soziologe und lebt als freier Journalist in Berlin.

Der Berliner Journalist Ralf Hutter.
© Privat
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