Ein Hybrid-Roman

07.09.2007
In "Divisadero" wählt der kanadische Autor Michael Ondaatje eine ungewöhnliche Form, indem er zwei Erzählungen in einen Roman packt. Die eine erzählt von Anna, einer Farmerstochter, die aus ihrem Elternhaus in Kalifornien flieht, die andere von dem fiktiven Dichter Lucien Segura. Kunstvoll verschränkt Ondaatje diese beiden Geschichten ineinander.
Die Idealform des Romans sei die kubistische, bemerkte Michael Ondaatje einmal, denn da träten mehrere Perspektiven gleichzeitig in Erscheinung. Seine Technik, verstreute und scheinbar disparate Erzählsplitter so zu montieren und aufeinander zu beziehen, dass sie im Auge des Lesers ein Muster ergeben, setzt daher auf kunstvolle Motiv-Spiegelungen, Figuren-Verdoppelungen und Bild-Reprisen.

In "Divisadero", Ondaatjes erstem Roman seit sieben Jahren, lässt sich diese Technik besonders gut studieren. Dieser Roman ist des Autors bisher kühnster und radikalster Versuch, die lineare Erzählweise zu überschreiten und die Romanform neu und anders zu strukturieren – als Hybrid-Roman. Das Buch gehorcht einem durchdachten, wenn auch riskanten ästhetischen Kalkül – dem Vorsatz, zwei divergente Erzählwelten mittels einer Drehpunktfigur aufeinander zu beziehen und ineinander zu spiegeln.

Diese Drehpunktfigur heißt Anna. Im ersten Teil des Romans ist sie 16 Jahre alt, eine Farmerstochter in Kalifornien, die nach einer häuslichen Katastrophe von zu Hause durchbrennt und sich als Autostopperin in ein neues Leben aufmacht. Im zweiten – und wesentlich umfangreicheren – Teil wechselt der Roman schlagartig die Zeit, den Schauplatz, die Handlung und das Personal und beginnt eine scheinbar völlig andere Geschichte zu erzählen – das Leben des (fiktiven) Dichters Lucien Segura in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, rekonstruiert aus Manuskripten, Archiv-Funden und Tagebucheinträgen sowie aus den Erinnerungen eines Roma-Musikanten namens Rafael. Dieser ist als Junge dem Dichter noch begegnet und stand ihm in seinen letzten Jahren nahe.

Die Drehpunktfigur Anna, die wir als halbwüchsige Ausreißerin in Kalifornien verlassen haben, taucht einfach 20 Jahre später wieder auf – als Akademikerin mit einem Doktorat in französischer Literaturwissenschaft der Universität Berkeley. Sie hat sich in Seguras letztem Domizil, einem Bauernhaus in der Gascogne, einquartiert und einen neuen Liebhaber gefunden, eben den Roma Rafael. Wir müssen annehmen, dass die Fragmente aus Seguras Leben, die wir gerade lesen, Annas Texte sind und zum Teil auf Rafaels Erzählungen beruhen.

Der aufmerksame Leser wird in den Segura-Kapiteln eine Fülle von Verweisen, Spiegelungen, Stimmungen, Bildern und Motiv-Bezügen entdecken können, kraft derer sie mit den Kalifornien-Kapiteln des ersten Romanteils verknüpft sind, aber auch mit früheren Ondaatje-Romanen. Die Lektüre erfordert vom Leser Aufmerksamkeit, aber er wird belohnt – durch zwei unglaublich dichte und suggestive Erzählungen, gepackt in einen Roman.

Rezensiert von Sigrid Löffler

Michael Ondaatje
Divisadero. Roman

Aus dem Englischen von Melanie Walz
Hanser, München 2007. 277 S., 21,50 €