Ein historischer Wiedergänger

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 04.09.2010
Alle paar Jahrzehnte tritt dieser Typus an die Rampe: Der Prophet des Untergangs des eigenen Volkes, mit seinen angeblichen, nie gesagten Wahrheiten. Dabei zielt er doch nur auf die irrationale Gefühlswelt einer bürgerlichen, zutiefst verunsicherten Gesellschaft.
Im November 1879, als sich das zweite Kaiserreich in der Großen Depression befindet und die Folgen der Deutschen Einheit noch nicht verdaut hat; im November 1879 also schreibt der prominente Historiker Heinrich von Treitschke in einem Aufsatz für die Preußischen Jahrbücher über die Einwanderung der osteuropäischen Juden:

"Über unsere Ostgrenze dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können." – Zitatende.

Der deutschnationale Geschichtsphilosoph Oswald Spengler, Autor des 1929 veröffentlichten Bestsellers "Der Untergang des Abendlandes" schreibt 1933:

"In Frankreich haben manche Departments seit 50 Jahren über ein Drittel der Bevölkerung verloren. In einzelnen ist die Geburtenzahl um die Hälfte niedriger als die der Todesfälle. Einige kleinere Städte und viele Dörfer stehen fast leer. Es gibt schwarze Geistliche, Offiziere und Richter. Diese Zugewanderten, weit über ein Zehntel der Einwohnerschaft, halten mit ihrer Fruchtbarkeit allein die Kopfzahl der 'Franzosen' annähernd auf gleicher Höhe. Aber der echte Franzose wird in absehbarer Zeit nicht mehr Herr in Frankreich sein."

Soweit also Oswald Spengler. Nicht wahr, dieser Ton kommt Ihnen jetzt bekannt vor. Treitschke, Spengler – und neuerdings Sarrazin. Alle paar Jahrzehnte, immer in wirtschaftlichen Krisenzeiten, tritt dieser Typus an die Rampe: Der Prophet des Untergangs des eigenen Volkes, mit seinen angeblichen, nie gesagten Wahrheiten, belegt mit angeblich wissenschaftlich exakten Erkenntnissen, nüchtern, brutal und gefühllos – und zielt dabei doch nur auf die irrationale Gefühlswelt einer bürgerlichen Gesellschaft, die im wirtschaftlichen und sozialen Wandel zutiefst verunsichert ist. Treitschke hat seinerzeit den politischen Antisemitismus hoffähig gemacht. An Spengler haben sich die Nazis gern bedient. Und Thilo Sarrazin begibt sich mit seiner ökonomistischen Sichtweise, mit seinen biologistischen Verirrungen und seinen fragwürdigen Ausflügen in die Eugenik in eine Gesellschaft, die er besser gemieden hätte.

Das industrialisierte Deutschland war immer Schauplatz von Migration und Desintegration – und hat sich mit Integration immer schwer getan, egal ob es sich um die verelendete Arbeiterschaft handelte oder um polnische Bergarbeiter oder um die osteuropäischen Juden aus dem Berliner Scheunenviertel. Es war immer hart, es gab immer Konflikte, es gab immer Parallelgesellschaften. Und immer gab es diese bigotte Haltung der Mehrheitsgesellschaft: sich einerseits abzugrenzen und Minderheiten auszuschließen, andererseits aber Integration und Assimilation der Minderheit zu fordern. Das kann nicht funktionieren.

Und leider bewegt sich Thilo Sarrazin in genau dieser kontraproduktiven Tradition. Wenn er behauptet, dass Muslime quasi naturgesetzlich integrationsunfähig sind, dann ist jede Anstrengung von vornherein umsonst. Beide Seiten können sich mit diesem Persilschein achselzuckend zurücklehnen. Und er übersieht geflissentlich, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft die Desintegration nach Kräften fördert. Das Faible der besseren Stände für die sozial und ethnisch homogene Turboschule sorgt für genau das, was ansonsten gern beklagt wird: für jene Problemschulen, in denen die Migrantenkinder aller Länder unter sich sind. Und außerdem: Wo die eingeborene Bildungselite die deutsche Kultur längst ignoriert und sprachlich ins "Globalesisch" emigriert, wie das der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant so schön formuliert - wie sollen Migranten da motiviert werden, die deutsche Sprache zu lernen?

Integrationspolitik verlangt genaues Hinsehen und nüchternes Analysieren, jawohl. Sie braucht den Willen der Migranten, sich zu integrieren, aber auch die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, Integration zuzulassen und zu fördern. An beidem fehlt es in Deutschland immer noch. Integrationspolitik verlangt, dort hinzugehen, wo es wehtut. Nach den Jahrzehnten der Gastarbeiter-Ideologie ist sie teuer und braucht viel Zeit und Geduld. Sie verlangt aber vor allem Psychologie und emotionale Intelligenz. Und die fehlt Thilo Sarrazin anscheinend ebenso wie seinen historischen Vorläufern.