Ein Hauch von Einsamkeit

05.06.2008
Ein kleiner Junge im Casablanca der fünfziger Jahre steht im Mittelpunkt des Romans "De Gaulle und ich" von Isabelle Azouly. Marcel ist ein Einzelgänger, aber ein guter Beobachter. In einer bilderreichen, poetischen Sprache vermittelt er uns den Alltag einer jüdischen Familie, die vom Exil in Frankreich träumt.
Die ersten Rollschuhe, aufgeregte Kinobesuche und Tango tanzende Eltern. Es sind sehr plastische und überwiegend schön gezeichnete Bilder, mit denen Isabellee Azoulay eine Kindheitsgeschichte im Casablanca der 50er Jahre lebendig werden lässt: Durch die Augen des heranwachsenden Marcel lernen wir das Leben einer privilegierten jüdischen Familie in Marokko kennen.

Marcels Eltern Aron und Alice leben mit ihren sechs Kindern - im Gegensatz zu den Großeltern - nicht mehr in der Mellah, dem alten jüdischen Viertel der Stadt, sondern pflegen ein urbanes, bourgeoises Leben, dessen Höhepunkt und Ende die Ausreise 1958 nach Frankreich markiert.

Ganz beiläufig erzählt dieses Buch damit auch exemplarisch vom Exodus der 200.000 marokkanischen Juden, die mit unterschiedlichen Zielen und Beweggründen entweder ins neugegründete Israel, in die USA oder aber - mit vor allem bürgerlichen Ambitionen - nach Frankreich zogen.

Isabellee Azoulay hat mit ihrem literarischen Debüt "De Gaulle und ich" keinen Roman vorgelegt - es sind vielmehr lose verbundene Erinnerungsfetzen, deren konkreter Ursprung in der Familie väterlicherseits liegt.

Als Kind eines sephardischen Juden aus Marokko und einer Französin wuchs Azoulay in Frankreich auf. Nach dem Studium der Soziologie in Paris und Frankfurt/Main hat sie verschiedene wissenschaftliche Publikationen herausgegeben und eine Künstlergruppe gegründet. Sie lebt in Berlin und hat "De Gaulle und ich" in deutscher Sprache verfasst - und dieses Buch bewusst mit einem Titel versehen, der falsche Hoffnungen weckt.

Denn de Gaulle tritt in diesem Buch gar nicht, beziehungsweise erst auf der letzten Seite des Buches auf - als Marcel schon im Flugzeug nach Frankreich sitzt. Und selbst diese Begegnung lässt sich eher als ein Wunschtraum denn als Realität verstehen. De Gaulle fungiert hier als Symbol für ein Land, das große Hoffnungen und Erwartungen weckt.

Marcels Vater Aron ist Atheist, er schwört eher auf Alexandre Dumas denn auf die Thora und lässt seine Kinder, allen familiären Protesten zum Trotz, nicht zur jüdischen Barmitzwa gehen. Stattdessen verordnet er ihnen Französisch-Unterricht und sorgt für eine umfassende Bildung, die den Umzug nach Frankreich vorbereiten soll.

Marcel, der Ich-Erzähler, ist 18 Jahre alt, als er am Ende des Buches in ein französisches Internat aufbricht - und dieses Alter markiert auch eine Zäsur in seiner persönlichen Entwicklung. Durch seine Augen erleben wir den Reifeprozess eines Jungen, der intelligent und freiheitsliebend ist, der unter seiner großen Familie leidet und erste erotische Sehnsüchte an der Person der arabischen Hausangestellten Najette auslebt.

Seinen Vater, den "Alten" empfindet er als dominant und unzugänglich, die Mutter ist vielbeschäftigt mit den kleineren Geschwistern. Ein Hauch von Einsamkeit weht über Marcel - er ist ein Junge, der anders ist und der sein Einzelgängertum durch sein Verhalten noch verstärkt. Aber er ist auch ein guter Beobachter, mit dessen Augen wir viel aus dem Alltag einer jüdischen Familie in Casablanca nach dem 2.Weltkrieg erfahren.

Marcels Sprache ist einfach, bilderreich, manchmal fast naiv, was eine besondere Poetik erzeugt - wenn er zum Beispiel aus der Augenhöhe eines Kindes beschreibt, mit welcher Wonne er als kleiner Junge seine Mutter ins Hammam begleitet, bis es ihm eines Tages wegen seines fortgeschrittenen Alters untersagt wird.

Auch die Situation in der Schule, der Umgang zwischen arabischen, jüdischen und kolonialfranzösischen Kindern spielt eine Rolle, ebenso die Zurückgebliebenheit des Mellah, wo die alten ungebildeten Juden leben. Es ist eine behütete, und doch unruhige Kindheit , die wir erleben und die ihren traumatischen Höhepunkt erlebt, als Marcel kurz vor der Emigration eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Arabern und Juden mitansieht.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist die Ausbruchsstimmung in seiner Familie unaufhaltbar. Der Abschied von Marcels Kindheit kommt unvermittelt und hart - genau wie das Ende dieses Buchs.

Von Olga Hochweis

Isabelle Azoulay: De Gaulle und ich - Eine Geschichte aus Casablanca,
Elfenbein Verlag
188 Seiten, 19 Euro