"Ein ganz radikaler Gefühlsextremist"

Günter Blamberger im Gespräch mit Andreas Müller · 20.05.2011
Die Doppelausstellung "Kleist: Krise und Experiment" zeigt das Leben des Schriftstellers in Berlin und Frankfurt/Oder. Von Kleist habe jegliche Sicherheit im Leben immer wieder aufgegeben, sagt Kurator Günter Blamberger.
Andreas Müller: Heinrich von Kleist lebte in einer Zeit beträchtlicher politischer, philosophischer und gesellschaftlicher Umwälzungen. Stets musste der Schriftsteller sich neu positionieren, heute würde man sagen neu erfinden, und vor dem Hintergrund gewaltiger Verwerfung und persönlicher Krisen versuchen, produktiv zu sein. Dabei wendete er eine Strategie der Extreme an: Mal will er sich als Beamter verdingen, mal als einfacher Bauer, mal sucht er den Tod als Soldat gegen Napoleon, was ihm aber ein guter Freund in letzter Minute ausredet. Die vielen Verunsicherungen und Veränderungen, der Weg ins Extrem machen Heinrich von Kleist 200 Jahre nach seinem Freitod zu einem sehr modernen Mann.

"Kleist: Krise und Experiment" heißt eine Doppelausstellung in Berlin und Frankfurt/Oder, die Professor Günter Blamberger, Präsident der Kleist-Gesellschaft, kuratiert hat. Außerdem ist kürzlich eine neue von ihm verfasste Von-Kleist-Biografie erschienen. Jetzt ist er bei uns, schönen guten Tag, Günter Blamberger!

Günter Blamberger: Guten Tag!

Müller: Heinrich von Kleist hatte in den wenigen Jahren, die er lebte, eine Krise nach der anderen zu bewältigen – das war politischen Verwerfungen geschuldet, aber auch persönlichen Dingen. Geben Sie uns doch mal ein paar Beispiele, die das ein wenig typisieren.

Blamberger: Zunächst mal muss man sich vorstellen, dass die Zeit um 1800 wirklich eine Krisen- und Katastrophenzeit in Preußen war. Preußen war quasi ein Wartesaal, in allen gesellschaftlichen Bereichen reformbedürftig – Militär, Bildung, Journalistik –, und Kleist hat in allen diesen Bereichen Experimentieranordnungen durchgeführt, weil er ein verarmter Adliger war, ohne Grundbesitz, anfangs eigentlich eine militärische Laufbahn versucht hat, einzuschlagen. Das ist ihm gründlich misslungen, er ist also mit 14, 15 schon in den Krieg geraten – das Wort Kindersoldat dafür wäre falsch, aber er hat wohl traumatische Erfahrungen machen müssen, weil er eben in der Pfalz kämpfen musste, wo man also nicht in Lineartaktik agiert hat, sondern Mann gegen Mann kämpfen musste. Und diese Zeit, in der er grausam töten und morden musste, hat er bitter beklagt gegenüber seiner Schwester.

Deswegen hat er dann versucht, eine bürgerliche Bildungskarriere zu starten und hat also nach sieben Jahren den Militärdienst quittiert und ist dann an die Viadrina nach Frankfurt/Oder gegangen, um zu studieren. Aber da passierte dann Folgendes, dass er eigentlich ein philosophischer Kopf sein wollte und auf keinen Fall einen Brotberuf anstreben wollte. Und das ist für Aristokraten ja an sich auch typisch, dass sie eigentlich ein Leben der Muße verbringen wollen. Und er hat dann angefangen, das war also ein Experiment, dass er eigentlich eine Verlobung geführt hat mit Wilhelmine von Zenge, also eine aristokratische Standesehe versucht hat umzuwandeln in eine bürgerliche Neigungspartnerschaft, indem er der Braut vorgeschlagen hat, unter anderem mit ihm in ein demokratisches Land, in die Schweiz, auszuwandern und Bauersfrau zu werden. Das hat die Adelstochter nicht gewollt. Also es war eines dieser vielen Experimente, die eigentlich die grandiose Verunsicherung und Destabilisierung eines Aristokraten um 1800 zeigen.

Müller: In einer Rezension, die in der "SZ" erschienen ist im März, unter anderem über Ihre Biografie, da wird von Kleist dann als Borderliner beschrieben, als Spieler auf der Kippe. Borderliner ist ein sehr extremes Wort – war er das?

Blamberger: Na ja, Borderliner, also ich lehne es eigentlich ab, Dichter auf die Couch zu legen. Ich hab die Rezension auch gelesen, ich würde mich genau dagegen verwahren an sich. Borderliner heißt ja, dass man sich selber beobachtet und genau weiß, was man falsch macht, und es dann trotzdem weitertreibt. Das war bei Kleist nie der Fall. Also er hat, glaube ich, sehr zielgenau seine Projekte entwickelt, er war nur ein destruktiver Charakter, der eigentlich immer das Notwendige vom Überflüssigen getrennt hat, und wenn er irgendein Projekt nicht mehr weiterverfolgen konnte, weil es am Widerstand der Institutionen scheiterte, da hat er es schlicht aufgegeben.

Müller: In dieser Zeit gab es sehr viele große Schriftsteller, die ähnlichen Verwerfungen unterlegen waren, ähnlichen Problemen auch, also Geldmangel, die Abhängigkeit von Gönnern. Was unterscheidet Kleist, ist er – durch das, was Sie ja auch schon geschrieben haben – zu etwas wie einem Krisenspezialisten vielleicht geworden?

Blamberger: Ja, also das sicherlich, das sieht man schon an der Gattungswahl. Er hat ja Novellen geschrieben, die allesamt mit einer Krise oder Katastrophe beginnen, also "Das Erdbeben von Chili", mit dem Erdbeben, wo alles zusammenstürzt, "Die Marquise von O.", die Vergewaltigung der Marquise, "Kohlhaas", ein Schlagbaum wird errichtet, wo vorher keiner war, ein Kaufmann kommt nicht durch und er wird dann zum entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.

Und im Grunde steckt hinter all diesen Krisen und Katastrophen die Krise und Katastrophe Napoleon. Also das ist der verborgene Gott der Erzählungen von Kleist, denn Napoleon hat ja damals ganz Europa mit seinen Heereszügen erschüttert. Er hat also eigentlich die normalen Menschen aus ihrer Bahn geworfen. Und Kleist – und das macht ihn so einmalig – schildert also keine melancholischen Bildungsgrübler wie die Idealisten dieser Zeit, also Goethe, Schiller, Novalis und so weiter, sondern den ganz gewöhnlichen Alltagsmenschen, der in Krisen gerät und sich da zu bewähren hat und eigentlich nur handelt, statt zu reflektieren.

Müller: Unsere Zeit ist – für viele Menschen jedenfalls – von Unsicherheit und dem Zwang zur steten Neupositionierung geprägt, wir sind nicht ganz so extrem, wie das vielleicht um 1800 herum war, aber es ist ja schon so ein neues Lebensgefühl auch. Können wir von diesem Heinrich von Kleist noch etwas lernen heute vielleicht?

Blamberger: Wir können vor allen Dingen dann etwas lernen, wenn wir begreifen, dass er gerade nicht aktuell ist, dass er völlig unzeitgemäß ist, weil er eigentlich jemand war, der es in diesem Wartesaal Preußen nicht ausgehalten hat. Und wir befinden uns zwar eigentlich ähnlich in einem Wartesaal und in einer relativ flachen Zeit, wo man überall das mittlere Maß sucht – genau das hat Kleist niemals ausgehalten. Er war so ein ganz radikaler Gefühlsextremist, der jegliche Sicherheit im Leben immer wieder aufgegeben hat, also quasi auch sich selber dann im Tod geopfert hat, um der Ehre willen, um einer heroischen Geste willen und wir sind in einer postheroischen Zeit. Es ist eigentlich unvergleichbar. Es ist eine Herausforderung eigentlich, doch so futurische Fantasien zu entwickeln, wie Kleist es getan hat, was aber dann auch seinen Preis hatte.

Müller: Die Krisen, der Gang, der Weg in die Extreme, war das Quelle für Kleists schöpferische Tätigkeit oder entstanden seine Werke trotz all dieser Widrigkeiten?

Blamberger: Es war sicherlich die Quelle von Kleists schöpferischer Tätigkeit. Also er war eigentlich ein Genie, das niemals in der Muße kreativ wurde, sondern eben immer nur in der Not, in der Klemme. Man nennt so was auch antiparastatisches Genie, hat Schopenhauer das mal genannt, also Kunst der Widerlegung. Man kann sich das so vorstellen wie bei Scheherazade, die ist sozusagen gegen den Tod erzählt und immer um Mitternacht einen Cliffhanger erfinden muss, um sich hinüberzuretten in den nächsten Tag. So verlaufen Kleists Werke, so verlaufen Kleists Projekte.

Müller: Ich spreche im Deutschlandradio Kultur mit Günter Blamberger, dem Präsidenten der Kleist-Gesellschaft, und er ist Kurator der Doppelausstellung "Kleist: Krise und Experiment". Wir haben jetzt sehr viel von den Krisen und Kleists Experimenten gehört und gesprochen, was ist davon in der Ausstellung zu sehen? Wie inszenieren Sie dieses zerrissene Leben?

Blamberger: Also zunächst mal ist es schwierig, Kleist auszustellen, weil er ja nichts hinterlassen hat. Er war ja Nomade, der durch halb Europa gereist ist. Man kann also in so einer Ausstellung nicht herumspazieren wie in einem Goethe- oder Schiller-Haus in Weimar, es gibt keinerlei Mobiliar, das übrig ist, die Briefe sind fast alle in der Jagellionischen Bibliothek, trotzdem haben wir 420 historische Objekte.

Wir haben also insgesamt 27 Räume in Berlin und in Frankfurt, wo wir die einzelnen Diskursexperimente ausstellen, die er gemacht hat im Militär, in der Journalistik, in der Liebe, in der Literatur und so weiter. Und wie machen wir das? Wir konfrontieren einfach die Krisenzeit um 1800 mit der Krisenzeit um 2000, und zwar historische Szenografien, Bilder, mit gegenwärtigen, ohne allerdings eine Analogie zu wahren, sondern wir wollen eigentlich gerade den Gegensatz und die Unvergleichbarkeit herstellen.

Müller: Die Ausstellung ist auf den Geburtsort des Dichters, Frankfurt/Oder, und den Ort seines Todes in Berlin aufgeteilt – warum diese Form? Ist es so, dass ich in Frankfurt vom jungen Kleist und in Berlin von dem kurz vor seinem Tode erfahre oder was ist die Idee?

Blamberger: Der Unterschied ist, dass in Berlin vor allen Dingen diese Diskursexperimente ausgestellt werden, während in Frankfurt/Oder vor allen Dingen die familialen Beziehungen eine Rolle spielen: Also wie verhält er sich als Bruder gegenüber seiner Schwester, wie ist er im Netzwerk seiner Freundschaftsbeziehungen zu sehen, wie geht er mit Geld um und so weiter. Und in Berlin geht es tatsächlich darum, zum Beispiel seinen Freitod zu verstehen oder seine journalistischen Experimente zu verstehen oder auch seine Experimente mit der Experimentalphysik, was ja ganz zentral für ihn war auch.

Müller: Ist am Ende dieses Kleist-Jahres, wenn diese Ausstellung dann auch gesehen ist, alles erzählt über Kleist, oder ist er noch längst nicht auserzählt, für Sie als Forscher zum Beispiel?

Blamberger: Nein, also ich hätte auch das Buch, das ist 600 Seiten stark, auf 1200 Seiten ausdehnen können, weil es so Spaß macht, über ihn weiterzuschreiben, und das, glaube ich, fehlt. Die enorme Wirkung, die Kleist in der Weltliteratur gespielt hat, da fehlt noch viel. Es fehlt auch übrigens viel an Übersetzungen Kleists in andere Weltsprachen, da muss noch sehr viel getan werden. Also ich glaube, der wird uns weiter beschäftigen, weil er überall Projekte geschaffen hat, die Fragmente der Zukunft sind. Aber was ganz entscheidend, glaube ich, ist, dass er jemand ist, der so undeutsch ist wie sonst was, und das muss erst entdeckt werden, weil er nämlich keinen Bildungsidealismus hat, kein Moralphilosoph ist, sondern eine Art empirischer Verhaltensforscher, der nicht beschreibt, wie Menschen sein sollen, sondern wie sie tatsächlich sind.

Müller: Danke, Professor Günter Blamberger, Präsident der Kleist-Gesellschaft und Kurator der Ausstellung "Kleist: Krise und Experiment". Zum Auftakt wird heute Abend der erste Teil der Schau im Berliner Ephraim-Palais offiziell eröffnet, am Sonntag wird der Frankfurter Teil der Ausstellung im Kleist-Museum eröffnet. Die Ausstellung ist an beiden Standorten bis zum 29. Januar 2012 zu sehen.
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