Ein Fluss aus verhinderten Geschichten

Rezensiert von Michael Opitz · 19.09.2006
Ein Augenblick in der Geschichte - eine Vielzahl an Möglichkeiten. Als Wahrheit setzt sich am Ende nur eine durch. Doch was ist mit den anderen? Der Adorno-Schüler Alexander Kluge bewegt sich in seinem Buch "Tür an Tür mit einem anderen Leben" auf den Spuren Ernst Blochs - in einem Strom aus 350 kleinen Erzählungen.
Er wird so etwas nicht noch einmal schreiben, versicherte Alexander Kluge zum Erscheinen seines voluminösen Buches "Chronik der Gefühle" im Jahr 2000. Doch spätestens als er drei Jahre später in "Die Lücke die der Teufel lässt" weitere 500 Texte aus seinem schier endlosen Geschichtenarsenal präsentierte - sie lesen sich wie Markierungen auf der Suche nach Orientierung in ein neues Zeitalter - durfte das Versprechen als hinfällig betrachtet werden.

Nun hat Kluge ein neues Buch vorgelegt. Auch die 350 Geschichten, aus denen "Tür an Tür mit einem anderen Leben" besteht, münden in jenen Erzählstrom, der Kluges literarisches Oeuvre auszeichnet. Über diesen Fluss lässt sich sagen: Wer an seiner Quelle sitzt, weiß über die Ausmaße, die er inzwischen angenommen hat - doch es dürfte schwierig werden, sein Kraftpotential zu beschreiben. Was heißen will: Es ist schier unmöglich, Kluges Bücher nachzuerzählen.

Die Erzählungen des neuen Buches - es gliedert sich in neun Kapitel - führen weit in die Geschichte zurück. Kluge geht der Frage nach, was wirklich und was unwirklich ist. Eindeutig vermag er die Frage nicht zu beantworten - doch seine Erzählungen gehen dem Phänomen nach.

Eine handelt vom begabten, modernen Raubtier im Tweed-Anzug, das damit beschäftigt ist, durch bewusst eingesetzte Informationen die Beziehungen zwischen China und den USA zu vergiften. Lange Zeit werden solche Informationen nur gesammelt und gestapelt. In einem möglichen Konfliktfall jedoch können sie zur Herausbildung einer neuen Realität führen. Das moderne Raubtier folgt keinen Spuren, sondern es legt "Suren von Nachrichten".

In diesem Kosmos von Möglichkeiten sind Kluges Geschichten angesiedelt. Unweigerlich bewegt sich der Adorno-Schüler Kluge mit diesem Ansatz auf den Spuren von Ernst Bloch und seiner These von der Vielzahl von Möglichkeiten, die geschichtlichen Augenblicken innewohnen - von denen sich allerdings nur eine als Wirklichkeit durchsetzt. Kluge fragt nun in seinen Geschichten gerade nach den Möglichkeiten, die sich nicht durchgesetzt haben, also missglückt sind.

Seine Kurzerzählungen kommen daher, als würde sie eher dem Faktischen als dem Fiktiven verpflichtet sein. Ihr unverwechselbares Label ist der protokollarische Stil - sie beschreiben. Aber diese so nüchtern scheinenden Texte sind durchaus mit fiktiven Momenten angereichert und vom Autor in der Absicht collagiert worden, dass sich so ihr Anschauungswert erhöht.

Jeder Text in dem Buch hat einen eigenen Wert, aber er existiert Tür an Tür mit anderen. Es gibt Verbindungen, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Doch obwohl jede Erzählung ihren Eigenwert besitzt, verfügt sie außerdem über offene Enden. Durch solche Textöffnungen sind Kluges Erzählungen miteinander verbunden.

Für den Leser stellt dieses Netzwerkverfahren eine anspruchsvolle Herausforderung dar: denn das Lesevergnügen erhöht sich, wenn ihm die Texttüren auffallen, die als Verbindungsstellen zu den Nachbargeschichten führen.

Alexander Kluge: Tür an Tür mit einem anderen Leben. 350 neue Geschichten.
Suhrkamp Verlag. September 2006
500 Seiten, 22.80 Euro (Taschenbuch), 29.80 Euro (gebundene Ausgabe)