"Ein einziger geretteter Jude zählt mehr als jeder getötete Deutsche"

Von Frank Kempe · 12.06.2012
Im Zweiten Weltkrieg befehligte er die größte jüdische Partisanengruppe in Polens Wäldern. Mehr als 1200 Menschen verdanken ihm sein Leben. Und doch starb Tuvia Bielski fast vergessen am 12. Juni 1987 in den USA. Er und seine Partisanen widerlegen das weit verbreitete Bild von den Juden als Opfern, die ohne Widerstand in den Tod gingen.
1231 Menschen, verdreckt, erschöpft und halb verhungert: Nur langsam wagen sie sich aus dem Wald bei Nowogródek im Osten Polens: Es sind Holocaust-Überlebende, einige von ihnen haben Gewehre. Dass sie an diesem 10. Juli 1944 vor den Nationalsozialisten endlich sicher sind, verdanken sie Tuvia Bielski, dem Anführer der größten jüdischen Partisanengruppe im Zweiten Weltkrieg – für ihn galt nur eine Devise:
"Stürzt euch nicht in den Kampf und in den Tod. Es sind nur noch so wenige von uns übrig; wir müssen Leben retten. Ein einziger geretteter Jude zählt mehr als jeder getötete Deutsche."
Zusammen mit seinen Brüdern Zus und Asael hatte Tuvia Bielski in den sumpfigen Wäldern von Naliboki so etwas wie eine geheime Kleinstadt aufgebaut, mit Dutzenden von "Ziemlankas", so nannten sie ihre bunkerartigen Behausungen. Nach und nach entstanden tief im Wald eine Bäckerei, Werkstätten, ein Lazarett, eine kleine Synagoge und sogar ein Badehaus.

Gertrud Pickhan, Historikerin am Osteuropa-Institut der FU Berlin, über die stetig wachsende Bielski-Einheit:
"Das Faszinierende an dieser Gruppe war, dass sie gleichzeitig ja auch Akte des bewaffneten Widerstands – Sprengung von Eisenbahnzügen – durchgeführt hat. Also es war sozusagen diese doppelte Ausrichtung: auf der einen Seite Schutz für die Familien, auf der anderen Seite aber eben auch aktiver Kampf gegen die Nazis."

Im Dezember 1941 fallen der Mordmaschinerie der Nazis Bielskis Eltern zum Opfer. Tuvia und drei seiner Brüder verstecken sich in den Wäldern, die sie seit ihrer Kindheit kennen. Täglich stoßen neue Flüchtlinge aus den Ghettos hinzu – Raja Kaplinski, damals 20 Jahre alt, erinnert sich an ihre erste Begegnung mit dem Chef der Bielski-Partisanen:
"Er hatte etwas an sich, was die Leute fesselte. Als er in seinem Ledermantel, das automatische Gewehr auf dem Rücken, sein Pferd bestieg, nannten wir ihn Yehuda Ha'Makkabi."
Yehuda Ha'Makkabi war einer der größten Krieger in der Geschichte des Judentums. Bei den Bielski-Partisanen sind die "Krieger" in der Minderheit – Tuvia, geboren 1906 als Kind jüdischer Bauern, hat in der polnischen Armee eine Ausbildung zum Scharfschützen durchlaufen. Die US-amerikanische Historikerin Nechama Tec, die ein Buch über die Bielski-Partisanen geschrieben hat, schätzt, dass der Anteil kampffähiger Männer nie mehr als 30 Prozent betrug.
"Die Mehrheit (...) wusste nicht einmal, wie man mit einer Waffe umgeht. Mehr als Dreiviertel aller Juden hatten im Vorkriegspolen überdies in Städten gewohnt und konnten sich deshalb nur schwer an die Lebensbedingungen der Wälder anpassen.""
Aus Sicherheitsgründen werden sämtliche Aktivitäten in die Nacht verlegt. Auch die Streifzüge zu den Bauern, aus deren Vorratskammern sich die Partisanen bedienen. Denunzianten werden gnadenlos erschossen.

Anfang 1943 beginnen die Deutschen nach Tuvia Bielski zu fahnden. Flugzeuge werfen Steckbriefe über dem Gebiet ab. 100.000 Reichsmark sind auf den Kopf von Tuvia Bielski ausgesetzt.

Problematisch war das Verhältnis zu sowjetischen Partisanen, mit denen Tuvia Bielski Zweckbündnisse schließen musste. Zum Beispiel die Beteiligung an Sabotageaktionen. Vor allem aber lieferte seine Einheit den Sowjet-Kämpfern Brot und reparierte Waffen oder Kleidung.
Die Geschichte der größten bewaffneten Rettungsaktion von Juden durch Juden wird 2008 in Hollywood verfilmt. In "Defiance" spielt James-Bond-Darsteller Daniel Craig Tuvia Bielski.

Gertrud Pickhan: "Es ist keine 1:1-Darstellung der historischen Vorgänge. Aber ich denke trotzdem, dass es das Verdienst dieses Filmes ist, dieses spannende und eben doch lange vernachlässigte Thema (...) den Menschen wieder nahezubringen."

Wie das Leben Tuvia Bielskis nach Kriegsende weiter geht, erzählt der Film nicht: Zunächst emigriert er nach Palästina, dann in die USA. In New York will er ein großes Fuhrunternehmen aufbauen. Doch seinen einzigen Lastwagen fährt er bis ins hohe Alter selbst. Am 12. Juni 1987 stirbt Tuvia Bielski, verarmt und beinahe vergessen. Ein Jahr später wird sein Leichnam exhumiert und in Israel mit einem Staatsbegräbnis beigesetzt.
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