Ein Einwurf zur Fußball-EM

Zwischen Notfall und Kniefall

02:52 Minuten
Beim Spiel der Gruppe D der Euro 2020 am 22. Juni 2021 zwischen der Tschechischen Republik und England knien die englischen Spieler vor dem Anpfiff auf dem Rasen des Wembley-Stadions in London.
Auch das wird hängen bleiben: Debatten darüber, wer gegen Rassismus kniet und wer stehen bleibt. © Imago / PA Images / Mike Egerton
Ein Kommentar von Heinz Schindler · 27.06.2021
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Bei der Fußball-EM haben die Achtelfinalspiele begonnen. Dass es nicht leicht werden würde, den Zeitgeist zu treffen, war bereits zuvor klar, kommentiert Heinz Schindler. Aber noch etwas anderes ist bei dem Event verloren gegangen: der Fußball.
Vor dieser Europameisterschaft mit den vielen Spielorten ging mir immer wieder Ingo Insterburg durch den Kopf. "Ich liebte ein Mädchen", kennen Sie garantiert, das Stück.
Was hätte der wohl heute gedichtet? Sie spielen in Kopenhagen, das musste ich erst erfragen. Sie spielen auch in Baku, da schaut der Oligarch zu. Sie spielen nicht in Helsinki, dafür vielleicht im Free-TV? Und vielleicht fällt Ihnen ja auch noch ein Vers ein?
Was aber werden wir von diesem Turnier in Erinnerung behalten? Den medizinischen Notfall des Dänen Eriksen – klar, von den Kameras gut ausgeleuchtet. Ich denke aber auch an den Arzt Brian Sutterer aus den USA, der auf so etwas nur zu warten scheint, und daraus Social-Media-Vorträge macht. Mit 2,5 Millionen Klicks innerhalb eines Tages.
Oder an den Eriksen-Fanschal, der am nächsten Abend in Amsterdam gefilmt wurde, schwarz-weiß gestrickt, denn man weiß ja nie…

Hunger auf Bilder

Ich finde das alles unappetitlich, doch der Hunger auf diese Bilder scheint vorhanden zu sein. Immer mehr davon muss her: Gesten, Zeichen, Moral, Ethik.
Auch das wird hängen bleiben: Debatten darüber, wer gegen Rassismus kniet und wer stehen bleibt. Ob die Stehenden wirklich den Haltungsschaden haben, der ihnen dann zugeschrieben wird, wenn nicht schon wieder der Regenbogen die Schlagzeilen dominiert. Darf er leuchten und wenn ja, wo und wie groß? Sogar der viel kritisierte Kommerz tritt da in den Hintergrund.
Merken Sie was? Ich habe noch gar nicht über Fußball gesprochen. Den finde ich in der Wahrnehmung auch kaum noch wieder, weil er in der Flut von Bildern, Politik und Moralin ersäuft. Ob das ein schöner Tod ist? Ich glaube nicht.

Ab in die Wüste

Profifußball und Ethik sind nun einmal Gegensätze. Diejenigen, die sie zwanghaft vereinen wollen, würde ich am liebsten alle in die Wüste jagen. Aber dorthin gehen sie nächstes Jahr von allein. "See You in Qatar", lese ich auf den Werbebanden.
Der Bestatter bei uns im Nachbarort stellt übrigens zu jeder EM und WM einen Sarg ins Schaufenster, mit einem Fußball drauf gemalt. Man liegt ja gern im Trend.
Und wissen Sie was? Noch nie fand ich das so treffend wie diesmal.

Nimmt die Politisierung des Fußballs überhand? "Was wir gerade erleben, ist kein neues Phänomen", sagt Sportredakteur Thomas Wheeler [AUDIO] . "Welt- und Europameisterschaften werden seit ihrem Bestehen immer wieder für Propaganda durch Politiker oder sogar durch das Militär benutzt, aber auch von Aktivisten und Fans, um politische Botschaften zu transportieren." Beim WM-Spiel 1974 zwischen Chile und Deutschland etwa protestierten im Publikum zahlreiche Zuschauer mit Transparenten gegen Pinochets Militärjunta (siehe Foto). Auch vereinzelte Aktivisten haben die Bühne internationaler Fußballturniere immer wieder für Protestaktionen genutzt.

Fans auf den Tribünen halten Transparente mit politischen Slogans gegen die Junta-Regierung in Chile hoch.
© imago sportfotodienst/Ferdi Hartung
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