Ein dynamischer Prozess

29.03.2010
Das Buch von Natalie Angier ist ein Plädoyer für den Spaß, den die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften bereit hält. Dabei geht es der Autorin vor allem um den Erkenntnisgewinn.
Wir sprechen gern vom Bildungskanon, wenn wir kurz und bündig beschreiben wollen, was wir in unserer Zeit und in unserer Kultur wissen sollten. Etwas Philosophie gehört dazu, etwas Religion und Ethik, die Literatur natürlich – und vielleicht die Naturwissenschaften. Am Anfang ihres wunderbar ambitionierten Buches merkt die Autorin an, dass die Kindheit wohl die einzige Zeit sei, in der erwartet wird, dass man die Naturwissenschaften schätzen müsse. Die Schule verlangt es.

Mit anderen Worten, der gesellschaftlich angestrebte Bildungskanon erfährt im Lauf unseres Lebens – nicht nur in Amerika - eine fast gesetzmäßig vonstatten gehende Reduktion. Woran das liegt, dazu kann auch die Autorin keine schlüssige Antwort geben. Dafür legt sie aber ein Buch vor, dass im Amerikanischen kurz "Canon" heißt und dass nicht weniger beansprucht als gegen die verbreitete individuelle Bedeutungslosigkeit der Naturwissenschaften anzuschreiben.

Für Ihre Gesamtschau hat die Autorin eine Reihe erstklassiger amerikanische Wissenschaftler besucht und interviewt und dabei ein vielseitiges Bild über den Rang fundamentaler Erkenntnisse in den jeweiligen Disziplinen eingeholt. Am MIT in Cambridge (USA) erklären ihr Physiker die elektromagnetische Strahlung und die Bedeutung des Sonnenlichts. Der Chemieprofessor Stephen Lippard verweist stolz auf die Domäne seines Faches, nicht nur die Welt zu erforschen wie sie ist sondern auch neue Moleküle zu kombinieren.

Und von Cynthia Wolberger von der John Hopkins Universität erfährt die Autorin warum die lebenden Zellen so klein sind: Klein ist überschaubar und fexibel. Alle Größenbereiche werden im Buch behandelt; auch das astronomisch Große und der Urknall und dessen Rätsel fehlen nicht. Warum gab es ihn? Der Physiker Alan Guth weiß es auch nicht.

Der erfrischende Stil, dessen sie sich bei ihrem Erzählen bedient und bei dem auch mal vom "Pinkeln" die Rede ist, kontrastiert scheinbar mit den seriösen Inhalten, bildet aber doch wieder mit der ganz offensichtlich quirligen Ich-Erzählerin eine seltsam attraktive Einheit. Man kann stöbern, lesen, überblättern und immer wieder entdecken.

Trotzdem sollte man dem Aufbau des Buches folgen, der eine innere Logik besitzt und der ungeheuren Vielfalt wissenschaftlicher Befunde einen Rahmen gibt. Bevor einzelne Disziplinen abgehandelt werden, steht zu Anfang das wissenschaftliche Denken im Mittelpunkt. Man nimmt demutsvoll zur Kenntnis, dass mit Meinungen und Ansichten in den Naturwissenschaften nicht viel erreicht werden kann.

Was zählt, sind Hypothesen und Beweise und die unbestechliche Neugier des Naturforschers. All die wunderbaren Erkenntnisse, von denen uns im Folgenden erzählt wird - von Physik und Chemie über Biologie und Geologie bis zur Astronomie – beruhen auf diesen Wurzeln. Ganz im Zentrum der jeweiligen Abschnitte stehen solche fundamentalen Hypothesen der Disziplinen, die zugleich fundamental für die Naturwissenschaften insgesamt geworden sind.

In der Physik ist es das Atom und die vier Naturkräfte, in der Chemie die Fähigkeit der Stoffe sich zu binden, in der Geologie der Aufbau der Erde und die Plattentektonik, in der Biologie die Zelle, die DNA und die Evolution - und in der Astronomie die Urknallhypothese.

Mit diesen Grunderkenntnissen wird gearbeitet. Die Autorin verdeutlicht ihr Potenzial, in dem sie immer vorführt wie substanziell diese Erkenntnisse für alle weiteren Erkenntnisschritte sind.

Natalie Angier hat ein fesselndes und ungeheuer mutiges Buch geschrieben, das es mit seiner bewundernswerten Fülle an Tatsachen und Einsichten jedem ermöglicht, am großen Abenteuer Naturwissenschaft teilzunehmen.

Besprochen von Peter Kirsten

Natalie Angier: Naturwissenschaft
Was man wissen muss, um die Welt zu verstehen

Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Hainer Kober
C. Bertelsmann Februar 2010, 320 Seiten, 19,95 Euro