Ein deutscher Sonderweg

03.11.2008
Die Geschichte der Technik ist keineswegs eine lineare, abstrakte Fortschrittsgeschichte, sondern eine zahlreicher Rückschläge, Seitenwege, Umwege und vor allem nationaler Besonderheiten. Das zeigt Joachim Radkau anschaulich in seinem überarbeiteten und neuaufgelegten Überblickswerk "Technik in Deutschland".
Technikgeschichte bedeutet in Deutschland oftmals Lobeshym-nen auf den Genius bestimmter Ingenieure oder Werbebroschüren über die Entwicklung einzelner Produkte. Als der Bielefelder Professor für Neuere Geschichte Joachim Radkau vor 20 Jahren zum ersten Mal seine Abhandlung "Technik in Deutschland" vorlegte, war das eine kleine Sensation, denn es war der erste kritische Gesamtüberblick, der mit vielen Vorurteilen aufräumte.

Jetzt hat er sein Buch gründlich überarbeitet und aktualisiert. Das hat der Arbeit ausgesprochen gut getan, denn seit 1989 ist Deutschland nicht mehr das, was es bis dahin war. Die DDR existiert nicht mehr. Ihre Produktionsstätten, bis dahin als Staatsgeheimnis für westdeutsche Wissenschaftler Terra incognita, sind zusammengebrochen.

Der Siegeszug der Computer hat stattgefunden, das WorldWideWeb ist entstanden, eine erste Internetblase geplatzt. Die Globa-lisierung hat die industrielle Landschaft drastisch verändert. Eine Überarbeitung der Technikgeschichte Deutschlands war denn auch überfällig.

Jetzt liegt eine kritische, umfassende und nüchterne Analyse vor, die den Teufel im Detail aufspürt, sich nicht an Innovationen entlang hangelt, sondern Umweltaspekte ebenso berücksichtigt wie Arbeitsbedingungen, politische und wirtschaftliche Zielsetzungen ebenso untersucht wie den Wandel menschlicher Bedürfnisse. Joachim Radkau räumt dabei mit vielen Vorurteilen auf und belegt dies bildhaft anschaulich und flüssig formuliert. Sein Buch ist eine Fundgrube zahlreicher wenig bekannter Details und Quer-verbindungen.

So zeigt er zum Beispiel, dass technische Innovationen keineswegs unmittelbar auf naturwissenschaftliche Entdeckungen folgten. Die vor allem im 20. Jahrhundert gepriesene wissenschaftlich-technische Revolution hat es so nie gegeben, auch wenn Deutschland für seine rasche Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Technik weltweit bewundert wurde.

Zudem ist die Geschichte der Technik keineswegs eine lineare, abstrakte Fortschrittsgeschichte: leistungsfähiger, besser, perfekter, sondern eine Geschichte zahlreicher Rückschläge, Seitenwege, Umwege, vor allem nationaler Besonderheiten. Die weit verbreitete Vorstellung, Deutschland habe oftmals nur abgekupfert, was andere vorgemacht haben, erst Englands Dampfindustrialisierung, dann Amerikas Automatisierung der Fabrikarbeit, stimmt geschichtlich nicht.

So hat man zum Beispiel in Deutschland im 19. Jahrhundert in zahlreichen Industrien noch bis 1850 an der Wasserkraft festgehalten, denn die war weitaus billiger als Dampfmaschinen. Und Holz diente noch sehr lange als Brennstoff, weil Kohle teuer war und als Werkstoff, weil es preisgünstiger als Eisen war. Das hölzerne Zeitalter verabschiedete sich nur langsam.

Hier scheint schon ein Grundzug des deutschen Sonderwegs der technischen Entwicklung durch: technische Innovationen wurden oft gründlich geprüft, keineswegs sofort übernommen und einge-führt. Man passte sie vorsichtig den Verhältnissen an, ging ange-sichts knapper Ressourcen weniger verschwenderisch mit Roh-stoffen um, war energiebewusster, setzte eher auf Erfahrung und Qualität.

Man setzte summa summarum mehr auf den Menschen denn auf die Maschine. Gut ausgebildete Arbeiter, das duale Bildungssystem sieht Joachim Radkau als Grundstein des Erfolgs deutscher Technik weitweit. Dass diese Qualitäten in den letzten zehn Jahren in Zeiten der Globalisierung und angesichts der Jagd nach überdurchschnittlichen Renditen von vielen Managern nur noch wenig geschätzt wurden, hält der Geschichtswissenschaftler für eine fatale Fehlentwicklung.

Die Fehleinkäufe eines großen Unternehmens wie Daimler-Benz, die Zerschlagung von Mannesmann, der Untergang von Hoechst nennt er als Beispiele für den Verlust technologischer Kompetenz zugunsten kurzfristiger Aktionärsgewinne. Die Zeiten kurzfristiger Gewinnmaximierung zulasten langfristiger technischer Entwicklungen scheinen allerdings jetzt vorbei, zumindest ist das ideologische Gerüst der Neoliberalen schwer beschädigt.

Die Finanzkrise bestätigt Radkaus Einschätzungen. Die Technikgeschichte zeigt, dass Vorsicht und Erfahrung Grundvoraussetzungen jeder erfolgreichen Innovation sind. Joachim Radkaus Buch ist ein Lob des bedächtigen Mittelwegs.

Rezensiert von Johannes Kaiser

Joachim Radkau: Technik in Deutschland - vom 18. Jahrhun-dert bis heute
Campus Verlag, Frankfurt 2008
533 Seiten, 29,90 Euro