Ein Denkmal für einen Freund

Rezensiert von Susanne Mack · 23.02.2006
Der wohl bekannteste Essay Montaignes heißt "Von der Freundschaft" und ist ein Denkmal für seinen Freund Etienne de la Boetie, der mit 33 Jahren in Bordeaux an der Ruhr starb. Mit den Jahren war Montaigne klar geworden, dass die Zeit mit Etienne ein Ausnahmeglück war. Der DTV Verlag hat Montaignes Klassiker gerade neu herausgegeben.
Michel de Montaigne, ein französischer Edelmann, 1533 geboren, gehört zu den Klassikern der Philosophie. Bekannt geworden ist er durch seine philosophischen Essays. Genau genommen hat Montaigne den Essay erfunden.

"Essay" heißt "Versuch", er ist die Frucht des freien Flusses der Gedanken. Ein Essay darf, ja er soll, unsystematisch und unfertig sein – genauso wie das Leben selbst. Einer von Montaignes berühmten Essays – vielleicht der bekannteste – heißt "Von der Freundschaft" und ist ein Denkmal für einen Freund: Etienne de la Boetie.

Montaigne lernt ihn in Bordeaux kennen, wo beide als Parlamentsräte tätig sind. Die Freundschaft dauert ganze vier Jahre. Dann stirbt Boetie, 33 jährig, an der Ruhr, und Montaigne durchleidet die schwerste Krise seines Lebens.

Michel de Montaigne trauert um einen Freund. Auch 20 Jahre nach dem Tod von Etienne de la Boetie, und obwohl er nach außen nicht mehr "Trauer trägt" , sondern längst zurückgefunden hat in's pralle Leben, hat Montaigne den Verlust doch nicht verschmerzt.

Im Gegenteil: erst mit den Jahren, nachdem er viele neue Menschen getroffen und Massen von Bücher – auch über Freundschaften - gelesen hat, ist ihm vollends klar geworden : diese Zeit mit Etienne war tatsächlich ein Ausnahmeglück :

"Wenn ich dieses ganze Leben, sage ich, mit den vier Jahren vergleiche, in denen es mir gegeben ward, die innige Vertrautheit und Gesellschaft dieses Mannes zu genießen: so ist es nichts als dunkle und freudlose Nacht. Wir haben diese Freundschaft so restlos und innig zwischen uns gehalten, dass sich kaum in der Überlieferung ähnliche finden und unter den heutigen Menschen sicherlich keine Spur davon anzutreffen ist. Es muss soviel zusammentreffen, um dergleichen zu erreichen, dass es viel ist, wenn das Schicksal es einmal in drei Jahrhunderten zustande bringt."

In Erinnerung an Etienne de la Boetie verfasst Montaigne einen Essay: philosophische Gedanken über das Wesen der Freundschaft überhaupt und darüber, was eine echte von einer falschen, einer trügerischen Freundschaft unterscheidet.
Ein wahrer Freund ist ein Geschenk, kostbar und unersetzlich. Angenommen, man käme in die missliche Lage, wählen zu müssen zwischen einer Geliebten und einem Freund - man soll das keinem wünschen, schreibt Montaigne, - aber wer klug ist, der entscheidet sich in diesem Fall für die Freundschaft und gegen die Liebe:

"Das Liebesfeuer ist, wie ich zugeben muss, eingreifender, brennender und peinigender. Aber zugleich ist es mutwillig und unbeständig, flatternd und sich wandelnd, eine Art Fieberglut, die auf- und abschwillt; ein Feuer, das nur Teile von uns versengt. - In der Freundschaft dagegen herrscht eine allgemeine Wärme, die den ganzen Menschen erfüllt und die außerdem immer gleich wohlig bleibt; eine dauernde , stille, ganz süße und ganz feine Wärme, die einen nicht verbrennt und nicht verletzt."

Montaigne hält die Pflege einer Freundschaft – vom Standpunkt der Ethik betrachtet – sogar für wertvoller als den Bund der Ehe, weil eine Freundschaft in jedem Augenblick ihres Bestehens auf Freiwilligkeit beruht. Zwänge sind der Freundschaft also vollkommen fremd, das ist ganz anders als in der Ehe:

"Die Ehe ist ein Vertrag. Nur der erste Anfang ist frei. Der Fortbestand wird durch Zwang und Gewalt durchgesetzt, hängt also nicht von unserem Willen ab, und Zweck des Vertrages ist gewöhnlich nicht die Erfüllung der Liebe. Außerdem bringt die Ehe viele unerwartete Probleme mit sich, die es zu lösen gilt und die oft schon genügen, eine lebendige Zuneigung zu trüben oder in die Brüche gehen zu lassen. Bei der Freundschaft ist das anders : bei ihr spielen wesensfremde Gesichtspunkte keine Rolle."

Eine echte Freundschaft, das bedeutet nach Montaigne "die vollständige Verschmelzung zweier Seelen". Oder besser noch – das hat er bei Aristoteles gelesen: "eine Seele in zwei Körpern".

Damit wird natürlich das Ideal einer Freundschaft beschrieben. Und ob Montaignes Beziehung zu Boetie nun wirklich so ideal gewesen ist, wie post festum behauptet, darüber wollen wir uns am Ende kein Urteil erlauben. Fakt ist jedenfalls: diese Freundschaft dauerte ganze vier Jahre. Bis zum Tod von Boetie.

War das vielleicht zu wenig Zeit für einen ordentlichen Krach zwischendurch? Und außerdem schreibt Montaigne mit dem Abstand von zwanzig Jahren, Gründe genug also, diese Freundschaft post festum mit einem Heiligenschein zu bekrönen. Trotzdem, wir wollen fair sein und Montaigne beim Wort nehmen, er weiß es schließlich am besten:

"Diese Freundschaft gehörte zu den vollkommensten ihrer Art. Sie war, wie gesagt, etwas ganz anderes als die gewöhnlichen Freundschaften. Bei diesen muss man vorsichtig, klug und bedacht vorgehen. Die Bindung ist nicht derart, dass es unnötig wäre, in gewissem Grade auf der Hut zu sein. Chilon sagt: 'Man soll lieben, wie wenn man mit der Möglichkeit rechnete, später einmal hassen zu müssen.' - Dieses Rezept ist bei der höchsten und vollkommensten Form der Freundschaft unerträglich, aber es ist heilsam bei Freundschaften, wie sie üblich und herkömmlich sind."

Das erinnert an Sigmund Freud, der meint, alle unsere Gefühle sind im Grunde ambivalent: jeder Freundschaft, jeder Liebe ist immer ein Quäntchen Hass beigemischt, und die Möglichkeit, dass vollkommene Liebe in ebenso vollkommenen Hass umschlägt, ist immer latent. Aber – und darüber äußert sich Montaigne leider nicht - man kann eben nicht wahrhaft lieben, wenn man a priori schon mit dem Verrat rechnet. Eine Freundschaft schließen, heißt Vertrauen wagen: da gibt es keinen Gewinn ohne Risiko. Aber diese durchaus "riskante Beziehung" ist die schönste, die es zwischen Menschen geben kann:

"Alle anderen Beweggründe für menschliche Bindungen - sexuelle Anziehung, Vorteil, Notwendigkeit für eine Gruppe oder für den einzelnen - sind weniger schön und uneigennützig. Sie sind deshalb nicht eigentlich als Freundschaften zu bezeichnen, weil sich bei ihnen andere Gesichtspunkte als Motive, als Ziel und als Gewinn einmischen, die mit der Freundschaft selbst nichts zu tun haben."

Wer einen anderen Menschen nur als Mittel gebraucht, um seine eigenen Ziele zu erreichen, der ist kein Freund, sondern allenfalls ein Geschäftspartner. Geschäftspartner zu haben und auch selbst einer zu sein, ist nicht etwa verwerflich, bemerkt Montaigne, man sollte sich nur nicht wundern, wenn sich eine so genannte "Geschäftsfreundschaft" in Luft auflöst, sobald das gemeinsame Geschäft erledigt ist. Wahre Freundschaft dagegen dauert so lange, wie die Seelen der Freunde dieser Beziehung bedürfen.


Michel de Montaigne: Von der Freundschaft.
Übersetzt von Herbert Lüthy
Deutscher Taschenbuch Verlag 2005
98 Seiten, 6,00 Euro