Ein Buch wird Realität

Von Jörg Oberwittler · 12.09.2011
Die niederländische Kinderbuchautorin Marjolijn Hof wurde als Kind adoptiert. Diese Erfahrung verarbeitet die 54-Jährige in ihren Büchern. Mit Erfolg, schließlich wird auch ihre Mutter auf sie aufmerksam – und beide Frauen finden heraus, dass sie sich jahrzehntelang näher waren als gedacht.
"Es gibt 17 Millionen Leute in den Niederlanden. Und dann wohnt sie um die Ecke. Das ist doch unglaublich. Da denkt man überhaupt nicht dran."

Unglaublich – so klingt es für viele, wenn Marjolijn Hof ihre Geschichte erzählt. Dreißig Jahre leben Tochter und Mutter in der gleichen Kleinstadt, begegnen sich in der Bibliothek, in der die Tochter damals arbeitet. Aber: Sie erkennen sich nicht.

"Wir haben auch gemeinsame Bekannte."

Marjolijn Hof wird in den 50er-Jahren geboren. Eine Zeit, in der ein uneheliches Kind noch als Schande gilt. Ihre Mutter sieht sich gezwungen, ihr Baby wegzugeben.

"Nee, meine Kindheit war nicht so glücklich. Nein."

Offen spricht die 54-Jährige in den Räumen ihres Berliner Verlags über ihre traurige Vergangenheit: eine Kindheit, die sie geprägt, aber nicht zermürbt hat. Das zeigt ihr immer wieder aufkommendes Lachen: laut, herzlich, fast kindlich glucksend. Marjolijn Hof wirkt auf Anhieb sympathisch: Lachfältchen, freundliche blaue Augen, eine charmante Lücke zwischen den Vorderzähnen.

"Das ist schwer auf Deutsch."

Sie wächst in einer Adoptivfamilie auf, besonders prägend: ihr neuer Vater. Ein Psychologe und Künstler.

"Ich hab immer Kinderbücher geschrieben und gelesen. Mein Vater war Kunstsammler. Der hat auch Kinderbücher gesammelt, aber er war auch ein ganz egozentrisches Mensch. Es war nicht einfach."

Ein interessanter Mann, der ihr intellektuell viel mitgab – aber wenig Liebe. Zweimal war er verheiratet. Marjolijn Hof hat wechselnde Adoptivmütter, doch ihre leibliche Mutter kennt sie nicht. Als Erwachsene wird sie zunächst Bibliothekarin. Den Schritt, Kinderbuchautorin zu werden, wagt sie erst spät: mit dreiundvierzig.

"Ich weiß nicht, ich dachte immer, es sei nicht gut genug. Ja, ich bin dann angefangen mit Kurzgeschichte. Und dann haben sie gesagt: 'Das war gut.'"

Eine Frau, die zu Unterstatement neigt: Ihr erster Roman gewinnt die wichtigsten Kinderbuchpreise. "Tote Maus für Papas Leben": Ein Kind hat Angst um den Vater, der als Arzt in Kriegsgebieten arbeitet. Die Kritiker sind voll des Lobes: Marjolijn Hof gebe Kinderbüchern eine ungewohnte Tiefe. Schrecke auch vor harten Themen nicht zurück. Sie selbst will nicht pädagogisch sein, sondern Geschichten erzählen.

"Naja, ich denk überhaupt nicht in Themas. Jede Buch fängt an mit einer Frage und mit Neugierigkeit und mit Empathie. Zum Beispiel mit ‚Tote Maus für Papas Leben’, da war einfach die Frage: Was geht dann im Kopf eines Kindes um, wenn einer der Eltern was Gefährliches macht. In meinen Büchern geht es immer um Kinder, die verletzlich sind, weil die Erwachsenen immer die Entscheidungen machen. Und die Kinder haben eigentlich keinen Einfluss."

In ihrem zweiten Buch "Mutter Nummer Null" verarbeitet sie ihre eigenen Sehnsüchte und Hoffnungen: Ein Adoptiv-Junge sucht seine echte Mutter – die "Mutter Nummer Null".

"Also, dieser Junge sitzt in den Zug und denkt über seine Mutter nach. Zum Beispiel, er ist in dem Zug und dann denkt er: 'Vielleicht ist meine Mutter in diesem Zug.' Und drei Monate später war ich in diesem Zug und meine Mutter auch."

Denn auch Majolijns Hof "Mutter Null" liest das Buch und stellt fest: Das ist meine Tochter. Die Frauen schreiben sich, dann folgt der lang ersehnte Tag: Mutter und Tochter sollen sich nach all den Jahren wiedersehen. Sie fahren im gleichen Zug zum gemeinsamen Treffen. Genau wie in der Szene aus dem Buch. Und die Tochter verzeiht.

"Ich war niemals böse. Das war das Erste, was meine Mutter gefragt hat, ob ich böse war. Aber nein – niemals."

Heute verstehen sich Mutter und Tochter blendend. Sogar das niederländische Fernsehen hat eine Dokumentation über die Geschichte der beiden gedreht.

"Marjolijn Hof: Ja, das ist echte Familie. Mutter: ja, absolut."

Oft kommt die Mutter zu Marjolijn Hof nach Hause, kocht mit deren Mann und deren erwachsener Tochter Jotte.

"Ja, ich glaube für meine Mutter war das ganz schwer. Na ja, sie war immer traurig darüber. Aber jetzt ist es so gut. Wir genießen wirklich jeden Tag davon."

Die Versöhnung gibt ihr Energie für neue Projekte. Kürzlich war sie mit einem Stipendium in Berlin, schrieb dort an ihrem neuen Buch, das im September erscheint: "Nie ist ganz schön lang". Ein Titel der auf Marjolijn Hofs Leben nicht mehr passt: Aus "Nie" ist ein "Happy End" geworden.

"Ich hab das überhaupt nicht gerne, wenn ein Buch wie ein Märchen endet, aber ich glaube, in meinem eigenen Leben ist es doch so wie im Märchen: Alles ist wieder gut."

Marjolijn Hofs neuestes Buch "Nie ist ganz schön lang" spielt auf Island. Auf Deutsch erscheint es in diesen Tagen im Bloomsbury-Verlag.