Ein Buch über die Treuhandanstalt

Negativ-Mythos der Wendezeit

08:30 Minuten
Pressekonferenz der Treuhandanstalt
Detlev Rohwedder (M), Präsident der Treuhandanstalt bei einer Pressekonferenz 1990 © picture alliance/dpa/Foto: Thomas Lehmann
Marcus Böick im Gespräch mit Dieter Kassel  · 03.08.2018
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Die Treuhandanstalt war in der Wendezeit verhasst und gefürchtet. Im Rückblick wertet der Historiker und Buchautor Marcus Böick ihre Rolle als eine Art Blitzableiter, der von der Wut auf die Bundesregierung abgelenkt habe und Krisen abpufferte.
Bei der Bewertung der Rolle der Treuhand bleibt der Historiker und Buchautor Marcus Böick vorsichtig: "Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage, Erfolg und Misserfolg", sagte er im Deutschlandfunk Kultur. Der Geschichte der Privatisierung des DDR-Staatsbesitzes in der Wendezeit hat Böick nun ein umfangreiches Buch mit dem Titel "Die Treuhand: Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994" gewidmet.
Die Misserfolge lägen auf der Hand, aber bei den Erfolgen hätten viele so argumentiert, dass die Treuhand zumindest kurz- und mittelfristig den Unmut der Ostdeutschen auf sich gezogen habe. Sie habe quasi als eine Art Blitzableiter gewirkt. So sei beispielsweise die Wut Bergleute in Bischofferode damals vom politischen System auf die Treuhandanstalt gelenkt worden. Dies habe es möglich gemacht, Krisen der Transformationszeit zumindest kurzfristig abzupuffern.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Vor 25 Jahren, im Sommer 1993, protestierten Kumpel der Kaligrube in Bischofferode monatelang gegen die Schließung ihres Betriebs, einige traten sogar in den Hungerstreik. Und schuld an all dem gaben sie der Treuhand, und das wurde damals auch ziemlich zugespitzt auf den Veranstaltungen in Bischofferode."Und so, wie wir heute hier angetreten sind, müssen wir vielleicht auch die Treuhand besetzen und diese Bagage wegschleudern! Nämlich meine persönliche Intention ist, ich betrachte eigentlich diese Treuhandanstalt als größte legale Hehlerorganisation, die es je gegeben hat. Es wird Eigentum verkauft, das sie überhaupt nicht besitzen!"
Demonstration in Bischofferode im August 1993
Bergleute demonstrierten im thüringischen Bischofferode 1993 über Wochen für den Erhalt der Zeche.© picture alliance / dpa / Foto: Ralf Hirschberger
Soweit ein wütender Bergmann damals im Sommer 93. Im Sommer 2018 hat Marcus Böick – er ist Historiker an der Ruhr-Universität Bochum – eine Monografie veröffentlicht mit dem Titel "Die Treuhand: Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994". Und deshalb wollen wir mit ihm jetzt darüber reden, was denn nun wahr ist – das, was man über die Erfolge der Treuhand hört, oder das, was wir gerade noch einmal aus Bischofferode gehört haben. Schönen guten Morgen, Herr Böick!
Marcus Böick: Ja, hallo, guten Morgen!
Kassel: Sie waren als wissenschaftlicher Mitarbeiter auch Teil des Projekts "Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt" vor dem Erscheinen dieses Buches. Was die Wahrnehmung angeht, entspricht doch das, was wir gerade gehört haben aus dem Jahr 93, dem, was viele Leute heute noch über die Treuhand denken, oder?
Böick: Ja, das ist absolut zutreffend. Gerade diese Wahrnehmung der Treuhandanstalt als Abwicklungseinrichtung des Westens, die quasi den Osten ausverkauft hat und das Volksvermögen veruntreut hat, das ist eine Deutung, die sich über die Jahrzehnte nicht verzogen hat, sondern eher verfestigt hat. Das war unser Eindruck, gerade auch bei älteren Ostdeutschen, die diese Zeit bewusst miterlebt haben, also die damals über 20, über 18 waren. Und da ist es bis heute so, dass die Treuhandanstalt sich zu so einer Art negativem Mythos der Nachwendezeit verfestigt hat. Das ist etwas, was Sie in Ostdeutschland sehr markant finden, ganz anders als beispielsweise in Westdeutschland oder unter Jüngeren.
Kassel: Aber was würden Sie denn mal spontan als umgekehrt die größten Erfolge der Treuhand nennen, also was, würden Sie sagen, haben die Menschen im Osten und im Westen der Treuhand zu verdanken?
Böick: Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage, Erfolg und Misserfolg. Die Misserfolge liegen natürlich auf der Hand. Bei den Erfolgen muss man sagen, haben Kollegen argumentiert, aber auch Treuhandmanager selbst, dass die Treuhand zumindest kurz- und mittelfristig den Unmut der Ostdeutschen auf sich gezogen hat und quasi als eine Art Blitzableiter, wie der Kollege Wolfgang Seidel es sehr schön formuliert hat, fungiert hat. Sie hat quasi die Wut auch der Bergleute in Bischofferode beispielsweise vom politischen System auf die Treuhandanstalt gelenkt und damit auch quasi ermöglicht, dass diese Krisen der Transformationszeit zumindest kurzfristig abgepuffert wurden.

Motiviertes, patriotisches Personal

Kassel: Ist denn eigentlich was dran an dem auch oft wiederholten Klischee, dass damals bei der Treuhand eigentlich nur zweitklassige Wirtschaftsexperten aus dem Westen zugange waren, die im Westen sowieso keiner mehr eingesetzt hätte?
Böick: Ich denke, das muss man sehr differenziert betrachten, und von Fall zu Fall kann man das eigentlich nur sinnvoll beurteilen. Also mein Eindruck – ich hab mich sehr intensiv mit dem Personal auch beschäftigt – ist, dass gerade auch in der Anfangszeit im Herbst oder im Sommer 1990 mit Detlev Rohwedder und anderen eine Reihe von sehr, sehr motivierten, auch sehr, sehr patriotisch motivierten, engagierten älteren Industriemanagern in ein Unternehmen, zur Treuhandanstalt gekommen ist, die hier wirklich versucht haben, Aufbauarbeit zu leisten aus verschiedenen Motiven, idealistischen Motiven oftmals. Und das war auch Personal, das aus den Spitzen sozusagen der Deutschland AG zur Treuhand gekommen ist, sehr, sehr kurzfristig und auch sehr, sehr engagiert hier quasi zugange war. Auf die trifft größtenteils dieses Klischee der zweiten oder dritten Garnitur eher nicht zu.
Kassel: Wir haben vor 20 Minuten noch mal einen Ausschnitt gehört aus einem Interview mit Lothar de Maizière, der einige Jahre nach der Arbeit der Treuhandanstalt gesagt hat, na ja, damals hatten wir alle das Problem, es gab Hunderte von Büchern in der DDR, wie man von der Marktwirtschaft zur Planwirtschaft kommt, aber kein einziges über den Weg zurück. Das war ja im Westen ähnlich – hatten die Menschen bei der Treuhand damals tatsächlich eine Aufgabe, für die es keinerlei Vorbilder gab?
Böick: Es war im Blick der Zeitgenossen wirklich eine absolut einmalige, historisch einmalige Aufgabe. Man war hier wirklich über Nacht, oftmals auch durch einen Anruf, relativ spontan rekrutiert zur Treuhand gekommen und sah sich da einem sehr chaotisch, sehr unübersichtlich empfundenen Szenario gegenüber, für das man wirklich auch keinerlei ausgefeilte oder differenzierte Blaupausen hatte.
1992 brachten Aktivisten in Thüringen ein Schild an: Treuhand-Mitarbeiter unerwünscht!
1992 brachten Aktivisten in Thüringen ein Schild an: Treuhand-Mitarbeiter unerwünscht!© Zentralbild / dpa
Ich hab es im Buch versucht deutlich zu machen an dieser Skizze von Ludwig Ehrhard aus den 50er-Jahren, das sind wenige Seiten, und da hat er quasi ganz grob skizziert, wie man von der Planwirtschaft wieder zu einer Marktwirtschaft kommen kann. Und das war etwas, auf das man sich dann in Bonn im Jahr 1990 sehr stark bezogen hat. Also das waren quasi die Hilfsdokumente, auf die man sich dann kurzfristig beziehen konnte.
Und gerade auch die Treuhandmanager waren diejenigen, die ab dem Sommer 1990 dann sehr unmittelbar mit den Folgen der Wirtschafts- und Währungsunion konfrontiert waren und dann irgendwie gemerkt haben, in Ostberlin beziehungsweise in den Bezirkshauptstädten der DDR, wir haben gar keine Informationen, wir wissen eigentlich auch gar nicht, wie wir das jetzt hier machen sollen, aber sollen so schnell wie möglich privatisieren. Also da war quasi der Eindruck von Chaos und Schocktherapie fast noch mit am größten.

Die Rolle der Wirtschaftskriminalität

Kassel: Es gab mehrere Untersuchungsausschüsse dann später, die sich mit der Treuhandanstalt beschäftigt haben, denen haben wir zumindest einige konkrete Zahlen zu verdanken. Paar Beispiele: Der durch Untreue und Betrug bei der Treuhand entstandene Schaden soll zwischen drei und zehn Milliarden D-Mark betragen haben, 1.800 Fälle von Wirtschaftskriminalität hat es gegeben, fast 200 Strafanzeigen wegen Veruntreuung, ich glaube aber nur eine einstellige Zahl von Verurteilungen am Ende, aber trotzdem: Wenn wir diese Zahlen nehmen, im Vergleich zu der Gesamtaufgabe der Treuhand, ist das viel oder wenig?
Böick: Das ist eine spannende Frage, und das wird natürlich sehr unterschiedlich bewertet, je nachdem, wen Sie fragen. Aus Perspektive der ostdeutschen Betroffenen oder ihrer linken Kritiker oder auch liberalen Kritiker, ist das natürlich zu viel. Aus Perspektive der Politiker, der Bundesregierung oder auch der Treuhandmanager, die argumentieren natürlich stärker in die Richtung, na ja, okay, Wirtschaftskriminalität findet immer statt, und in Umbruchszeiten ist natürlich die Anfälligkeit, ist quasi der Möglichkeitsraum für Wirtschaftskriminalität, gerade wenn so viel unklar ist und wenn so viele Dinge gleichzeitig passieren, sehr viel größer als in normalen Zeiten, und deshalb muss man diese Zahl sicherlich differenziert bewerten.
Jeder Fall ist sicherlich damals auch aus Perspektive von Birgit Breuel und anderen einer zu viel gewesen, und die Treuhandanstalt hat auch gerade ab 91/92 sehr massiv versucht, intern ihre Kontrollmechanismen auszubauen, mit Bauchschmerzen zum Teil, weil man ja eigentlich auch schnell privatisieren wollte und sollte und damit die bürokratischen Hürden so gering wie möglich belassen wollte. Aber auf der anderen Seite sah man natürlich, dass diese Skandale ein großes Problem sind, gerade auch in der Öffentlichkeit.

Wichtige Umbrucherfahrungen

Kassel: Sie arbeiten und leben in Bochum, wurden aber – und aus gutem Grund erwähne ich das ausnahmsweise mal – 1983 in der DDR geboren. Wenn Sie heute auf den Osten blicken, taugt das, was Sie über die Treuhand wissen, das Ergebnis Ihrer Arbeit, taugt das auch, um den heutigen Osten zu erklären, vielleicht gerade die AfD?
Böick: Ich denke, es ist ein wichtiger Baustein, wenn wir uns differenziert quasi damit auseinandersetzen wollen, warum auch nach drei Jahrzehnten diese Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland in der Mentalität, aber auch in verschiedenen Arten sozioökonomischen Fragen noch immer sehr stark ist und sich eben nicht abgeschliffen hat oder aufgelöst hat. Und da ist die Nachwendezeit – und nicht nur die Treuhandanstalt, sondern auch viele andere Dinge, die damals geschehen sind – ein wichtiger Aspekt bei der Ursachenfrage.
Das Werksgelände des Robotron-Kombinats in Dresden im Jahr 1994
Riesige Staatsunternehmen wie das einstige Robotron-Kombinat wurden in den 1990er von der Treuhand privatisiert © Picture Alliance / Thomas Lehmann
Es ist nicht nur die DDR-Vergangenheit allein, die den Osten, in Anführungszeichen, erklären hilft, sondern quasi auch diese Nachwendeerfahrung, diese Umbruchserfahrung, die im Übrigen nicht nur eine ostdeutsche ist, sondern – wir hatten es ja auch schon thematisiert – auch viele Westdeutsche waren quasi daran beteiligt.
Und Ost und West waren ja gerade in dieser Zeit sehr eng miteinander verknüpft und sind da quasi so etwas aneinander gerasselt, muss man sagen. Und dieses Reibungspotenzial, dieses Konfliktpotenzial hat sich da entladen, und das hat mentale Spuren hinterlassen, die bis in die Gegenwart reichen. Und das hilft uns natürlich auch ein Stück weit, zumindest in einer Facette, zu erklären, warum auch viele Ostdeutsche Demokratie, Marktwirtschaft bis heute mit einer gewissen Skepsis begegnen.
Kassel: Der Historiker Marcus Böick, Autor des Buches "Die Treuhand: Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994". Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Böick!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Marcus Böick: "Die Treuhand: Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994"
Wallstein Verlag 2018, 79 Euro.

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