Ein akustischer Streifzug durch die Vergangenheit

UTOP89

08:25 Minuten
Nach einem dreisten Diebstahl steht der gestohlene Dom wieder auf seinem Platz in der Bastion Cleve, der Dieb brachte die Teile wieder zurück samt einem Zettel - der gut 1 Meter hohe hölzerne aus Eichenholz hergestellte Magdeburger Dom, das Unterteil des Holzmodells wiegt ein Zentner *** After a brazen theft, the stolen cathedral is back in its place in the Cleve Bastion, the thief brought the parts back together with a note of the 1-metre-high wooden Magdeburg Cathedral made of oak wood, the lower part of the wooden model weighs one hundredweight.
Mittelalterliches Holzmodell der Stadt Magdeburg © www.imago-images.de
Von Judith Geffert  · 03.11.2020
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Mit der Audio-Inszenierung "UTOP 89 – und wer kümmert sich jetzt um die Fische?", die sich mit der Wendezeit beschäftigt, erkundet Judith Geffert ihre Heimatstadt Magdeburg.
Atmo Audiowalk
Guide: "Hallo, hörst du mich? Wenn ja, strecke deinen Daumen hoch."
Ich stehe im Foyer des Schauspielhaus Magdeburg, gemeinsam mit 14 Anderen.
Ausgerüstet mit Bluetooth-Kopfhörern sind wir bereit für die hörbare Stadtrauminszenierung "UTOP89", ein Stück des Regieduos Kim Willems und Meret Kiderlen.
Atmo Audiowalk
Guide: "Siehst du die Bilder des Schauspielensembles neben der Garderobe? Gehe darauf zu."
Die Stimme in unseren Ohren wird uns für die nächsten zwei Stunden durch Magdeburg führen und die Ereignisse der Umbruchszeit um 1989 durch Erzählungen von Magdeburger*innen wieder lebendig werden lassen.
Atmo Audiowalk
Guide: "Vor gar nicht so langer Zeit gab es einen Moment, in dem Menschen eine Richtung eingeschlagen haben, die sie noch nie gegangen waren. Stell dir vor, der Aufbruch von damals ist die Utopie von heute, hier und jetzt wäre nochmal so ein 89. Was würde bewegt werden, von wem, und in welche Richtung?"
Wir betreten jetzt das Utop89. Stadtrauminszenierung: Was ich sehe und was ich höre verbindet sich zu einer neuen Realität. Ich kann nicht mehr unterscheiden – sind die Geräusche um mich herum echt oder kommen sie aus den Kopfhörern? ich lasse mich fallen in den Sound, der mich umhüllt.
Die Straßen, durch die wir laufen, kenne ich von Klein auf. Magdeburg ist meine Heimatstadt. Aber über meine eigenen Erinnerungen legen sich jetzt die Erinnerungen der im Vorhinein interviewten Magdeburger*innen.
Atmo Audiowalk
Guide: "Bleib an der Ecke stehen. Siehst du den Dom? Vor 30 Jahren stand an dieser Stelle Nadja Groeschner, schaute auf den Dom und fragte sich, wie der nächste Schritt aussieht. Es ist der 9. Oktober 1989:"
Nadja Groeschner: "Und dann kamen wir da am Domplatz an und dahinter in der Danzstraße standen ganz viele Bullenautos. Also so ringsum also um den Domplatz herum und im Dom, da strömten Leute hin und da kannte man ja auch viele und da hab mich da hingestellt und hab ganz jämmerlich angefangen zu heulen und hab zu meinem Freund gesagt: "Oh, ich trau es mir nicht. Ich geh nach Haus. ich bin doch noch so jung."
Jetzt ist der Platz vor dem Dom fast leer. Etwas weiter weg findet ein Street Food Festival statt. Trotz der scheinbar gelösten Stimmung an diesem herbstlichen Samstagnachmittag befällt mich ein beklemmendes Gefühl.
Die Stimme fordert uns auf, nach rechts zu schauen. Und schon bricht die Realität in die Imagination ein – an einer kleinen grünen Tür steht der ehemalige Domprediger Giselher Quast, der eben noch auf den Kopfhörern zu hören war.
Er lädt uns ein, ins Kirchenschiff zu kommen und erzählt von der Stimmung am 2. Oktober 89, als über tausend Menschen dort ihre politischen Forderungen an die Regierung formulierten.
Atmo Audiowalk
Giselher Quast: "Und heute, 31 Jahre später, mit unseren globalen Problemen, mit den gesellschaftlichen Spaltungen in unserem Land, was wäre heute Ihre wichtigste politische Forderung an die Bundesregierung? Ich habe vorne ein paar Zettel hingelegt und Stifte und lade Sie ein, Ihre wichtigste Forderung aufzuschreiben. Kommen Sie mit."
Das Damals mit dem Heute verbinden. Immer wieder gibt es auf dem Rundgang Gelegenheiten, selbst aktiv zu werden. Auf den bereitgelegten Demoschildern stehen jetzt die Forderungen unserer Gruppe: "Nehmt den Klimawandel endlich ernst" oder "Evakuiert Moria!".
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Giselher Quast: "Meine Frage an Sie ist, haben Sie den Mut, Ihre Forderung jetzt auf die Straße zu nehmen, so wie wir damals auf die Straße gegangen sind mit unseren Forderungen? es kostet heute weniger, das ist klar."
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Guide: "Du läufst. Die Anderen laufen mit dir. Mit oder ohne Schilder. Wie fühlt sich das an, jetzt als Gruppe zu laufen?"
Mit den Schildern in der Hand laufen wir den Breiten Weg entlang. Diese Route sind im Herbst 89 auch die Demonstrierenden gegangen. Zugegeben: wir sind ein kleiner Demotrupp von 14 Leuten und werden von den Passant*innen um uns herum komisch angeschaut. Ich denke an all die Menschen, die hier schon demonstriert haben: meine Eltern damals, ich auf Anti-Nazi-Demos in den 2000ern, heute die Aktivist*innen von Black Lives Matter oder Fridays for Future.
Atmo Demo von Coronaleugner*innen
Und auch die: an unserer nächsten Station, dem Alten Markt, treffen wir auf 500 Coronaleugner*innen, die "Freiheit" skandieren. Ich bin froh, dass ich meine schallgedämpften Kopfhörer aufhabe und mir eine andere Geschichte von Magdeburg anhören kann. Eine, in der Menschen wirklich für ihre Freiheit gekämpft haben.
Atmo Audiowalk
Jacqueline Brösicke: "Wir haben dann einen Aufruf gestartet, ein paar Plakate. ‘Frauen, lasst uns ins Gespräch kommen! Wir wollen wissen, was sind eure Ängste, was sind eure Befürchtungen?‘ Um diese Gesellschaft besser zu machen, von dem was vorher war oder von dem wie es jetzt zu erwarten ist."
Jacqueline Brösicke ist Mitgründerin der Fraueninitiative Magdeburg, die sich 1989 gegründet hat und bis heute existiert. Auch sie ist live vor Ort. Während nebenan die Demo tost, steht sie unbeeindruckt auf dem Balkon des Rathauses und erzählt von ihrem Outing beim ersten Treffen der Fraueninitiative, vor 200 versammelten Frauen.
Atmo Audiowalk
Jacqueline Brösicke: "Ich denk, ich fall tot um, ich soll mich praktisch auf eine Bühne stellen und von meinem Lesbisch-Sein erzählen? Ich hab so etwas noch nie gemacht. Zu DDR-Zeiten hat man sich nicht geoutet."
Dem Team um die Dramaturgin Elisabeth Gabriel war es wichtig, genau solche emanzipatorischen Momente zu erzählen:
Elisabeth Gabriel: "Mir persönlich war es wichtig, die Freiräume im Denken aufzuzeigen, die es damals gab, die Aufbruchsstimmung wiedererstehen zu lassen, nicht um das schön zu färben, sondern auch um den Blick auf das Heute zu lenken. Und das Interessante war, dass man eben gesehen hat, was die Leute damals wirklich bewegt haben und dass man darauf sehr stolz sein kann, was man geschafft hat und was man durchgemacht hat und was für Umbrüche das waren. Diese Erzählungen, die einfach auch erzählt werden müssen, die aber nicht erzählt worden sind, das war uns wichtig. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt an Erzählungen."
Noch eine weitere Stunde lang fahren und laufen wir durch die Stadt. Wir lauschen den Erinnerungen eines Bereitschaftspolizisten, der mit den Demonstrierenden sympathisierte, an eine friedliche Demo mit Kerzen vor der Stasizentrale und den Worten eines Punks, der mit seiner Band nach dem Mauerfall durchstartete.
Ich kann mich immer schlechter konzentrieren – den Anweisungen der Stimme folgen und die angeschnittenen Themen verarbeiten, ohne beim Straßenüberqueren überfahren zu werden. So eine Stadtrauminszenierung fordert viel Konzentration.
Und ich frage mich: wie soll ich heute ausbrechen und das System verändern, wenn ich gerade wie ferngesteuert durch die Stadt laufe?
Auch bei den anderen Magdeburger*innen scheint das Stück neue Gedanken anzustoßen, wie Elisabeth Gabriel mir erzählt:
Elisabeth Gabriel: "Was mich erstaunt hat, ist, dass viele Magdeburger und Magdeburgerinnen auch diese Produktion so lieben und auch so überrascht sind, von Dingen, die damals passiert sind, von denen sie nichts wussten, weil sie gesagt haben: ich war so in meiner Blase, ich war dort und dort aktiv, ich hab gar nicht mitbekommen, dass die Frauenbewegung... Und so ist das ne schöne Gelegenheit, vor allem für die Leute, die hier wohnen, dass sich so ein Bild ergibt der eigenen Geschichte.