Ein Abenteuer jenseits von Raum und Zeit

09.02.2010
Der Titel "Anathem" leitet sich aus dem englischen "anthem" (Hymne) und dem griechischen "Anathema" (Kirchenbann) ab. Neal Stephenson erzählt in seinem neuen Roman davon, wie der Held aus einer klösterlichen Gemeinschaft verstoßen wird.
Doch der Roman spielt gar nicht auf der Erde, sondern auf dem Planeten Arbre. Dort ist man der Entwicklung auf unserem Globus mehrere tausend Jahre voraus, die verwendete Technik allerdings entspricht weitgehend der unsrigen. Das liegt daran, dass die Zivilisation auf Arbre schon mehrmals zusammengebrochen ist. Nur einigen Gebildeten ist es zu verdanken, dass wenigstens das Wissen gerettet werden konnte.

In klösterlichen Ghettos leben so genannte Math, die – streng beäugt von der Obrigkeit – jegliches Wissen für die Nachwelt bewahren müssen. Einer von ihnen ist Raz, ein junger Mann, der nach zehnjähriger Klausur für ein paar Tage in die Außenwelt entlassen wird. Doch sein Ausflug verläuft anders als geplant: Raz kommt einem kosmischen Rätsel auf die Spur und erkennt, dass der Planet in höchster Gefahr ist.

Neal Stephenson, der in Interviews gern damit kokettiert, bei der Internetplattform Facebook nicht mehr zu verstehen, worum es den Betreibern und Nutzern eines sozialen Netzwerks eigentlich geht, versucht mit "Anathem" die Philosophie aus irdischen Dimensionen herauszulösen. Seine Fans bezeichnen das Buch im Internet als ein Abenteuer jenseits von Raum und Zeit.

Stephensons Kritiker sagen, das Buch schildere eine nur teilweise spannende Odyssee durch den Weltraum auf der Suche nach einer Antwort darauf, wie die Welt in ihrer Gesamtheit beschaffen ist - leider garniert mit einer etwas aufgesetzt wirkenden und damit dann doch wieder sehr irdischen Liebesgeschichte.

Die große Fähigkeit des 1959 geborenen Autors ist es, seine fiktive Welt komplett zu entwerfen und auszuschmücken. In der deutschen Ausgabe braucht er dazu gut 1000 Seiten. Neal Stephenson ist bekannt dafür, experimentell mit neuen Medien und virtueller Realität umzugehen. Auch für "Anathem" dürften sich wieder mathematisch versierte und wissenschaftlich orientierte Philosophen begeistern, die sich gern auf neue (Gedanken-)Welten einlassen.

Wer das Buch aufschlägt, erfährt auf den ersten Seiten, was ihn erwartet: clevere, gehobene Science-Fiction-Literatur. Wer dem nichts abgewinnen kann, wird ehrlicherweise bereits im Vorwort abgeschreckt, dort irritiert eine knappe Chronologie des Planeten Arbre mit so diffizilen Begriffen wie "Post-Verheerungs-Konvox".

Die Hauptfigur Raz bemerkt schon bald erste Anzeichen, dass auf Arbre etwas nicht in Ordnung ist. Uhren gehen falsch, Tatsachen und Spekulationen vermischen sich, am Himmel ereignen sich Dinge, die die Herrschenden sogar vor den Wissenschaftlern verbergen wollen, um ihre Macht zu sichern.

Der Autor schildert sämtliche Vorgänge mit leidenschaftlicher Detailversessenheit. Voller Inbrunst diskutieren die Wissenschaftler im Buch über die Frage, was nützliches Wissen ist, wie es sich für die Nachwelt bewahren lässt und ob es überhaupt sinnvoll ist, nach Wissen zu streben. Spätestens hier erkennt auch der nichtwissenschaftliche Leser, dass Arbre mehr mit der Erde und mit uns zu tun hat, als es zunächst den Anschein hatte.

Besprochen von Roland Krüger

Neal Stephenson: Anathem
Deutsch von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller
Manhattan Verlag, München 2010
1024 Seiten, 29,95 Euro