Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer auf Chios

Helfen, wo es keine Hoffnung gibt

05:10 Minuten
Blick auf das Hauptcamp für Flüchtlinge auf der Insel Chios: auf einem matschigen Acker stehen Zelte aus Plastikplanen.
Statt nach Europa zu kommen, sitzen tausende Flüchtlinge auf Chios im Schlamm fest. © Grit Lieder
Von Grit Lieder · 14.01.2020
Audio herunterladen
Fast 8000 Flüchtlinge leben derzeit auf der griechischen Insel Chios. Die meisten in selbstgebauten Zelten, viele ohne Strom, alle ohne Heizung. Die großen Hilfsorganisationen haben sich aus Chios weitgehend zurückgezogen. Nur freiwillige Helfer sind geblieben.
Katja Weber steht in einem kleebewachsenen Olivenhain. Es ist kalt, aber die Sonne scheint heute ausnahmsweise durch die Blätter. Links neben der Schweizerin treiben fünf junge Männer eine stumpfe Axt in einen 200 Jahre alten Baum.
Die Männer schlagen Feuerholz für das Frühstück. Katja begrüßt sie, reicht Plastikbeutel und Pflaster. Seit einem Monat kommt die Schweizerin zum Müllsammeln ins Flüchtlingslager Vial. Und das freiwillig.
"Wir sind noch nicht im Camp", erklärt Katja. "Das ist der Bereich, den alle als WC nutzen. Es gibt im ganzen Lager nur zwei Toiletten. Ja, deswegen machen hier alle auf den Acker."
Und da muss Katja jetzt durch. Die 40-Jährige will zu den Zelten im Tal, dem wilden Camp rund um den Hotspot Vial. Sie geht langsam. Aber es ist unmöglich, den Fäkalien auszuweichen.

Ein erbärmlicher Gestank kriecht durch die Wände

Katja hat es geschafft. Rund 30 Kinder haben die Frau mit den blau-grünen Haaren schon erwartet. Die vierfache Mutter ist die einzige Helferin, die derzeit jeden Tag in den Dschungel kommt. So nennen die Bewohner das Camp aus tausenden, selbstgebauten Zelten. Hier wohnt auch Katjas fleißigster Helfer:
Der 33-jährige Syrer trägt einen orangenen Trainingsanzug und bittet Katja in sein Zelt, einen selbstgebauten Verschlag aus grünen und grauen Plastikplanen. Der hat den Sturm vom Vortag überstanden. Aber ein erbärmlicher Gestank kriecht durch die Wände. Das Regenwasser hat Acker und Fäkalien vor die Zelte gespült.
Nach einer Teepause wollen Katja und Abdullah gemeinsam Müll sammeln.
"Das ist jetzt mein Job, seit ich meinen neuen Boss Katja kennengelernt habe", sagt Abdullah.
Katja lacht. Nicht immer bringt sie der Job zum Lachen:
"Vor zwei Tagen ist eine Frau aus Somalia vor mir zusammengebrochen und bekam einen Krampfanfall. Ich habe den Krankenwagen gerufen und als ich sagte, der Notfall sei im Flüchtlingslager, sagten sie, dass sie nicht kommen werden."
Ins Flüchtlingslager Vial kommt derzeit immer weniger Hilfe. Die Vereinten Nationen haben ihren Shuttlebus-Service auf der Insel eingestellt. Linienbusse halten nicht am Camp. Wer ins Krankenhaus oder in die Stadt muss, nimmt eines der unzähligen, roten Taxis am Haupteingang. Eine Strecke kostet zehn Euro.

"Schlimmer als alles, was ich bisher gesehen habe"

Ein grauer Reisebus ist der einzige, der an diesem Morgen das Camp anfährt. 80 Geflüchtete bringt er nach Chios, der Hauptstadt der gleichnamigen Insel. Hier betreibt die Journalistin Tamar Dressler das Bildungszentrum "Imagine".
Die energiegeladene Israeli ist in ihrem Element, führt durch die zehn Räume der ehemaligen Büroetage. Es riecht nach frischer Wandfarbe.
"Am Freitag und Samstag öffnen wir ausschließlich für Mütter und Kinder", sagt Dressler. "Es gab eine kleine Mutter-Kind-Einrichtung in der Stadt. Die hat vor zwei Wochen geschlossen. Und Frauen, die keine gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen besuchen wollen, können jetzt nirgendwo hin."
Auf einer weißen Anzeigetafel steht mit Filzstift geschrieben: "Welcome to Imagine"
Das Imagine Center wird von der Israeli Tamar Dressler geführt.© Grit Lieder
Nach einer 20-minütigen Führung geht Dressler in ihr Büro. Und hier, an ihrem noch leeren Schreibtisch, spricht die Chefin Tacheles. Die Lebenssituation ihrer Studierenden alarmiert sie:
"Als ich das letzte Mal zum Camp gefahren bin, konnte ich einfach nicht aus dem Auto aussteigen. Das war zu hart für mich. Und ich arbeite schon lange in der Entwicklungshilfe. Das ist schlimmer als alles, was ich bisher gesehen habe, nicht nur in Europa, auch in Afrika."
Während sich im Imagine-Center neue Studierende registrieren, ist das Team von "Chios Eastern Shore Response Team - Offene Arme" bereits zum zweiten Rettungseinsatz aufgebrochen.
Der Grieche Thanos ist auf dem Weg, um das Team aus Freiwilligen zu unterstützen. Denn in diesem Augenblick kommen neue Geflüchtete auf der Insel an.
Der Familienvater engagiert sich seit kurzem für die deutsche Organisation Offene Arme, die seit 2016 Geflüchtete direkt nach der Ankunft mit trockener Kleidung und Essen versorgt.
"'Salvamento Maritimo Humanitario' hat uns informiert", so Thanos. "Das sind Freiwillige, die medizinische Hilfe bei der Ankunft leisten. Sie sind meistens die ersten am Strand und dann rufen sie uns an. Die griechische Regierung macht hier gar nichts."
Mehr zum Thema