E für Europäer, E für Egozentrismus

Rezensiert von Gregor Ziolkowski · 25.07.2006
Frustration, Neurosen, Einsamkeit. In seinem zweiten Roman schreibt der spanische Autor monologartig in Fallgeschichten verschiedener Charaktere über das Leben in allen Teilen Europas, heute und früher: eine Herausforderung für die Leser, die zum Nachdenken über die Zustände und Probleme auf unserem Kontinent anregt.
"Geschichte ist die Autobiographie eines Wahnsinnigen." hatte Nikolai Gogol einmal notiert und es ist keine herbeigeholte Willkür, wenn man Javier Salinas' Roman "E" wie eine üppige Fußnote zu diesem Satz liest. Wer Dostojewski und Tschechow zitiert, wer Teile seines Romans in der Sowjetunion beziehungsweise in deren Nachfolgestaaten handeln lässt, der könnte ohne weiteres auch Kenntnis von Gogols Sentenz haben. Und wer mehrere seiner Figuren, die eigentlich nur monologisierende Stimmen sind, in jenen Verwahranstalten zum Sprechen kommen lässt, die den geistig Verwirrten, den von der "Norm" Abweichenden vorbehalten sind, der hat zumindest ein Gespür für den Gehalt dieser Sentenz entwickelt.

"E", die Titelfigur dieses Romans, existiert nicht wirklich. Es ist eine Chiffre, eine Projektion, die mehrere Bedeutungen und Inhalte umgreift: Unbedingt steht "E" für Europäer. Die Collage von Stimmen, die der Roman versammelt, wird praktisch gespeist von allen geographischen Punkten des Kontinents aus – von Russland bis Portugal, von Norwegen bis Griechenland. "E", das ist auch der Eingeschlossene, der in Konflikt geraten ist mit den Bezugssystemen seiner Umwelt, der darum in einer erzwungenen oder selbst gewählten Isolation lebt und sich in seinem Monolog rechtfertigt für seine Sicht auf die Welt. "E", das ist ebenso das Symbol für den westlichen Egozentrismus, für den Kult des Individuellen, der manchmal als Egoismus, dann wieder als das mühsam errungene Selbstbewusstsein des Einzelnen in Erscheinung tritt. Jene Stimmen, die da zu Wort kommen aus den vielen europäischen Städten und Regionen, verhandeln "E" daher mal als Leitbild, mal als verdammenswerten Ausdruck eines europäischen Lebensstils, der eitel, ignorant und selbstbezogen ist. Und schließlich ist "E" auf seiner philosophischsten Ebene jene Kluft, die sich zwischen dem Glücksanspruch des Individuums und seinen tatsächlichen Lebensumständen auftut.

Schickt der Autor seine Leser zunächst auf die Fährte, es könnte sich bei "E" tatsächlich um eine Romanfigur handeln, wird schnell deutlich, dass dies keineswegs der Fall ist. Denn obwohl im Text ohne jede Ankündigung und ohne Absatz der Ich-Erzähler (und damit die Lebensgeschichte, der Ort und oft auch die Zeit) abrupt wechselt, wird genau dieses verwirrende Erzählprinzip relativ schnell transparent. Und da jeder dieser Ich-Erzähler "E" auf irgendeine Weise im Mund führt, ist klar, dass mit "E" keine konkrete Person gemeint sein kann. Die abrupten Wechsel der Ich-Erzähler erzeugen einen erstaunlichen Effekt: Es ist, als hätte man den geographisch-historischen Raum Europa vor sich liegen und könnte nun – ganz nach Belieben – aus dem kakophonen Gesamtgeräusch, das der Kontinent erzeugt, einzelne Stimmen herausfiltern und hörbar machen.

Diese Stimmen erzählen eine Schmerzgeschichte Europas. Der junge Österreicher, der als glühender Hurra-Patriot in den Ersten Weltkrieg zog, kehrt als verstümmelter Blinder zurück. Unversehens geht sein Monolog in das Selbstgespräch eines blinden Esten aus der Gegenwart über, der sich in den komplizierten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion zurechtfinden muss. Ein russischer Musiker – ebenfalls erblindet, wie überhaupt Blindheit ein durchgehendes Motiv in dem Roman ist – erinnert sich an die traumatische Schlüsselszene seines Lebens: Als zehnjähriger Junge "begegnet" er erstmals seinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg verschollen war. Der Frostboden hatte die Leiche konserviert, eine geologische Grabung brachte sie zehn Jahre nach dem Tod des Vaters ans Licht. Zur Identifizierung nimmt die Mutter den Jungen mit – es ist die einzige Gelegenheit für den Sohn, seinen Vater zu sehen. Das zerfallene Jugoslawien, die sich formende EU, das Anschluss suchende Ost- und Mitteleuropa, der Kalte Krieg oder die Angst vor dem Ausbruch eines Atomkriegs sind einige der historischen Momente, die in den Monologen den Hintergrund der persönlichen Fallgeschichten bilden.

Diese Fallgeschichten sind häufig in einem direkten Sinn Fallgeschichten: Depressionen, Frustrationen, Neurosen, Einsamkeit und Isolation sind die Gründe, warum mehrere der Ich-Erzähler zum Psychiater gehen oder gar in einer Klinik ihre Zeit verbringen. Das ausgefallene oder abgestorbene Glück, ein Mangel an Erfüllung und eine fehlgeleitete Existenz ziehen sich durch den Text und quälen die Figuren: zerbrochene Lieben oder nicht geborene Kinder, wirtschaftliche Not (oder doch wirtschaftlicher Druck) oder verfehlte Lebensentscheidungen sind es, die die Identitäten erschüttern und als äußerst fragile Konstruktionen hinterlassen. Beide Elemente, das Andeuten des historischen Rahmens und das Aufwerfen der Fragwürdigkeit der dabei entstandenen Lebensweise, sind es, die den Roman zu einem ganz und gar "europäischen" Roman werden lassen.

Der dabei aber keineswegs nur zu einer historisch-sozialpsychologischen Bestandsaufnahme der europäischen Zustände wird. Der artifizielle Stil des Erzählens, das spielerische Erinnern daran, "dass ich eine Erfindung meiner selbst bin und hinter meinen Worten nichts ist" – wie es eine Figur formuliert –, ein oft sarkastischer, manchmal absurd-surrealer Humor und ein feiner Sinn für Ironie machen diesen Roman zu einem hochliterarischen Ereignis.

Javier Salinas: E. Roman.
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
Ammann Verlag,
Zürich 2006.
282 Seiten
19,90 Euro