"Durch diesen Zustand wird alles unterbrochen"

Joshua Marston im Gespräch mit Andreas Müller · 18.02.2011
Heute wird im Wettbewerb der Berlinale "The Forgiveness of Blood" welturaufgeführt. Der Film zeigt, wie eine albanische Familie in eine Blutrache hineingezogen wird - männliche Familienmitglieder dürfen das Haus nie wieder verlassen.
Andreas Müller: Nik ist 17 und besucht im Norden von Albanien die letzte Klasse einer Oberschule. Das ist ein tatkräftiger junger Mann, der nach seinem Abschluss ein Internetcafé eröffnen will. Seine Schwester Rudina ist 15, sie möchte später an die Universität. Doch dann wird die Familie der beiden in einen Streit um Landbesitz verwickelt, der Vater des Mordes angeklagt. Auf einmal sind Nik und Rudina in eine Blutrache hineingezogen. Die strengen Vorschriften des "Kanun", eines jahrhundertealten Gewohnheitsrechts in Albanien, verbieten allen männlichen Familienmitgliedern, einschließlich des erst sieben Jahre alten Bruders, das Haus zu verlassen.

"The Forgiveness of Blood" heißt der Film des kalifornisches Regisseurs Joshua Marston, der diese Geschichte erzählt und der heute im Wettbewerb der Berlinale seine Welturaufführung erlebt. Jetzt ist der Regisseur bei uns zu Gast, schönen guten Tag! Wie sind Sie eigentlich auf dieses Thema gekommen, was hat Sie daran fasziniert?

Joshua Marston: Dieses Thema der Blutrache in Albanien begegnete mir zunächst einmal in einem Zeitungsartikel. Alle sechs bis acht Monate wird so eine Geschichte über Albanien berichtet, und dann ist es eben immer dieses Thema der tödlichen Familienfehden. Für mich war aber nicht so sehr das Thema Blutrache das eigentlich Faszinierende, sondern mehr die Art, wie die Familien hier in völlige Isolation geraten, wie sie sich abschotten und das Haus nicht mehr verlassen, weil sie Angst haben, ein Familienmitglied könnte durch den anderen Klan getötet werden. Da tauchte also in meinem Geist so dieses Bild eines Teenagers auf, eines vollkommen normalen Jugendlichen, der SMS schreibt, der Videospiele spielt und der dennoch eingeschlossen ist in dieser völlig archaischen Situation. Dieser Kontrast zwischen dem archaischen Denken und der modernen Lebensweise zwischen Alt und Neu, das hat mich so fasziniert.

Müller: Vielleicht schildern Sie uns einmal, wie das eigentlich abläuft. In Ihrem Film kommt es zu einem Mord, und dann setzt das Regelwerk des "Kanun" ein, dieses alten archaischen Regelwerkes. Was passiert dabei?

Marston: Kanun ist eine mündlich weitergegebene Rechtstradition, ein Regelwerk, eine Sammlung von Gesetzen, die sich über mehr als 500 Jahre hin entwickelt hat, die natürlich sich auch im Lauf der Zeit ändert, die aber außerordentlich detailverliebt ist, ganz spezifische Regeln niederlegt für das Geschäftsleben, für die Gastfreundschaft und eben auch Festlegungen trifft für den Fall eines Totschlages. Was geschieht dann, welche Zahlenwerke müssen hier berücksichtigt werden – all das wird bis ins Einzelne hinein geregelt, das ist geradezu verrückt.

Hier in diesem Film entsteht Streit um ein Grundstück und im Lauf dieses Streites wird einer getötet. Und jetzt beginnen eben die Alten, wie es typisch für die albanische Gesellschaft ist, auszumessen oder zu berechnen, was nun vergolten werden soll, wie viele Leben in die Wagschale geworfen werden sollen, was als Nächstes geschehen soll. So kommt allmählich dieses Geschehen vom Kanun bestimmt in Gang – Kanun eben eine Art Rechtsbuch, aber nicht im Sinne des kodifizierten Rechts, sondern als mündlich weitergegebene Tradition. Und dieses Kanunwesen ist eine Art Parallelgesellschaft zu den gesetzlichen Regelungen, den verfassungsmäßigen Regeln, die durch die Polizei und durch die Justiz verkörpert werden. Das ist wichtig, das Nebeneinanderher-Bestehen dieser völlig getrennten Rechtssysteme zu erkennen.

Müller: Während des Regimes des Enver Hoxha, 40 Jahre lang, hat es genau einen nachgewiesenen Blutrachemord gegeben. Seit dem Ende des Regimes – man weiß ab 1992 Zahlen – wurden mehr als 9500 Männer ermordet, wurden Opfer der Blutrache in Albanien. Das wirkt natürlich hinein in viele, viele Tausend Familien, viele, viele Tausend Menschen sind betroffen. Sie selbst waren ja mit Ihrem Koautor Andamion Murataj bei Menschen, die festgesetzt sind in ihren Häusern, die nicht das Haus verlassen dürfen. Was macht das mit den Leuten? Das dauert ja mitunter Jahre, das ist ja verheerend, stelle ich mir vor.

Marston: Wir haben in der Tat Familien besucht, die in dieser Situation stecken, zum Beispiel eine Familie mit vier Söhnen, von denen der älteste 14 Jahre alt war, und diese Familie lebte seit 15 Jahren in dieser Situation des Abgeschlossenseins. Das bedeutet, dass die Kinder nicht in die Schule gehen, dass sie fest eingeschlossen sind in dieser Wohnung. Das schafft eine Atmosphäre der fürchterlichen Enge und Bedrängtheit. Die Jungen kommen nicht zum Lernen, die können sich nicht körperlich betätigen, sie sitzen einfach da und schauen Fernsehen.

Es war schwierig, überhaupt Essen zu bringen. Als wir da kamen, haben wir zum Beispiel einen Fußball mitgebracht – das war schon ein großes Geschenk für die Jungen. Danach haben wir auch eine andere Familie besucht, mit dem 18-jährigen Sohn, der, seit er fünf Jahre alt ist, in dieser Situation lebt. Er hatte aber eine ganz reife und entfaltete Persönlichkeit entwickelt, er war also nicht so mitgenommen oder geprägt. Das heißt, man muss auch sehen, dass die Menschen ziemlich viel aushalten. Sie können versuchen, ein einigermaßen normales Leben zu führen, dennoch bleibt es dabei, durch diesen Zustand wird alles unterbrochen, alles still gestellt, das Leben selbst wird schwierig, selbst die notwendigen Dinge des Lebens – das Essen, das Einkommen zu beschaffen, wird schwierig –, und es kommt auch häufig zu einer Art Geschlechtsrollenumwandlung: Die Frauen, die vielleicht vorher zu Hause geblieben waren und keine Arbeit hatten, übernehmen nun die Verantwortung, müssen den Lebensunterhalt verdienen, sodass sie also eine Beschützerrolle übernehmen für die Väter und Söhne. Die Situation schlägt um.

Müller: Das ist natürlich ein hoch spannender Moment, auch in diesem Film: Die 15-jährige Tochter muss nun fürs Einkommen sorgen, das tut ihr sehr gut, man merkt wirklich, wie sie sich verändert, wie sie geradezu aufblüht. Ohnehin scheinen die Frauen diejenigen zu sein, die noch so etwas wie Verstand besitzen, denn Nik hat ja eine Freundin und die sagt sinngemäß etwas in diesem Film: Ihr Männer streitet euch um jede Kleinigkeit, und dann gibt es gleich großen Ärger, warum hört ihr nicht einfach auf damit? Ja, warum hören die Leute nicht einfach auf damit?

Marston: Das ist nun wirklich eine sehr verwickelte Frage und darauf kann es keine einfache Antwort geben. Eines ist klar: Albanien hat dieses Problem, nimmt sich des Problems an, und tatsächlich gehen diese blutigen Fehden zurück. Zugleich gehört dieses Blutrachedenken aber auch zum Teil der Kultur dazu. Es ist etwas, was weitergegeben wird, all dieses Denken in Begriffen von Ehre, der Wert des eigenen Ich, das wird wirklich tatsächlich gelehrt – entweder ausdrücklich oder stillschweigend weitergegeben. Wie man zum Beispiel auf Beleidigungen reagiert, ist Bestandteil dieses Codes. Hier muss wirklich ein tiefer Wandel einsetzen, ein kultureller Wandel. Nun bin ich ja nur Regisseur und kein Soziologe, und selbst wenn ich Soziologe wäre, würde ich mich sehr zurückhalten, in einer Radiosendung jetzt irgendwelche Ratschläge für Millionen von Albanern zu geben, wo ich doch kein Albaner bin. Jedenfalls, es ist eine riesige Herausforderung, die bestehen bleibt. Und Eines ist klar: Dieser Wandel wird befördert durch Demokratisierung, durch den Einzug neuer technischer Fertigkeiten wie Facebook oder Internet, auch durch die Wirtschaft, dadurch, dass eben viele junge Menschen ins Ausland gehen – nach London, Toronto oder nach Italien –, dort etwas verdienen und dann zurückkehren nach Albanien. Dadurch wird Wandel geschaffen, der sich dann auch kulturell niederschlägt. Aber es ist etwas, was Zeit braucht, und im Moment ist das eine Situation des Übergangs. Und genau diesen Übergang versuchte der Film einzufangen.

Müller: Blutrache in Albanien ist das Thema des Films "The Forgiveness of Blood", der heute im Wettbewerb der Berlinale gezeigt wird. Im Deutschlandradio Kultur sprechen wir mit dem Regisseur Joshua Marston. Mister Marston, Sie schauen in die Familie hinein, manche Einstellungen erscheinen mir wie ein Blick in ein Fotoalbum, Sie erzählen aus der Familie heraus diese Geschichte – haben Sie deshalb, wie schon in Ihrem Film "Maria Full of Grace", mit Laiendarstellern gearbeitet?

Marston: Ich arbeite üblicherweise mit einer Mischung aus Laiendarstellern und Profis. In diesem Fall war es überhaupt nicht möglich, professionelle Schauspieler in diesem Alter, also Jugendliche von 15 bis 17 Jahren zu finden, die gibt es nicht. Wir sind also in Albanien von Schule zu Schule gezogen und haben Probeaufnahmen mit Tausenden von jungen Menschen gemacht. Bei diesen Probeaufnahmen habe ich dann zweierlei mitgenommen: Erstens, die Laiendarsteller können dem Film eine Echtheit, eine Lebensnähe verleihen, die eben sonst nicht möglich wäre. Zweitens, während des Castings konnte ich als amerikanischer Regisseur eben auch mich hineinversetzen in das, was es bedeutet, eben ein Jugendlicher in Albanien zu sein. Das hat mir wiederum dabei geholfen, Authentizität in diesem Film herzustellen.

Müller: In "Maria Full of Grace" zeigten Sie, was Drogen mit den Menschen in einer prekären Gesellschaft anrichten, damals war das Kolumbien – nun also ein Film über Blutrache, auch wieder so ein Thema, das am Rande irgendwie stattfindet, Albanien als Ort am Rande Europas im wahrsten Sinne des Wortes. Was interessiert Sie so sehr an diesen Stoffen, an diesen Geschichten vom Rande?

Marston: Bei diesen Stoffen, bei diesen Filmen entdeckt man etwas, was man vorher nicht gesehen hat. Eine unbekannte Welt taucht auf, etwas Neues, und das ist natürlich für mich als Filmemacher so spannend, denn das hält mich lebendig. Und ich glaube, für die Zuschauer ist eben auch der Gewinn, dass Sie etwas entdecken, was vorher nicht bestand für sie. Diese Neuheit liegt zunächst mal in der Lokalität – Kolumbien oder Albanien, das sind Orte, die man üblicherweise nicht kennt –, aber es liegt auch in der Situation und vor allem in der Perspektive, weil die Geschichten eben aus der Perspektive eines Beteiligten erzählt werden, und dadurch entsteht auch Neuheit. Zum Beispiel wird hier eben erzählt aus der Perspektive einer Frau, die diese Drogen verschluckt, es wird nicht von außen auf die Geschichte gesehen. Dasselbe gilt für Albanien. Es gab zwar schon Filme über Blutrachefälle, aber hier ging es stets darum, wie eben die Verbrechen der Familien sich gegenseitig aufschaukeln. Das war nicht mein Interesse bei diesem Film, hier ging es nicht um die Kriminalfälle, sondern es ging darum, wie die Menschen leben, was macht das mit dem Leben der Kinder oder der Jugendlichen, wenn ein so uraltes archaisches Denken plötzlich hineinreicht in eine moderne Lebenswelt?

Müller: Vielen Dank fürs Hiersein und viel Erfolg bei diesem Festival noch!

Marston: Danke schön!