"Durch die Tannen will ich schweifen"

Von Eberhard Schade · 11.01.2009
Der junge Heinrich Heine wandert 1824 durch den Harz: Von Göttingen über Goslar und den Brocken bis nach Ilsenburg und wieder zurück. Mit der "Harzreise" gelingt ihm der literarische Durchbruch. Spöttisch und feinsinnig erzählt er von den elementaren Dingen des Lebens: von Essen und Trinken, Frauen und Politik und von seinen Befindlichkeiten als Dichter.
" So als Startmotivation ein kleines Gedicht. Hallo, hallo! Gruppe ist Gruppe. Lesung ist Lesung. "

Der Heineführer hat es schwer. Er selbst müde, die Haare strubbelig gelegen im Kopfkissen seiner Pension, kann den Literaturkreis kaum halten. Es ist früher Morgen, genau wie bei Heine. Der spürt "Erquickung", als es endlich losgeht. Ilse, Doris, Marianne, Eberhard und die vier anderen – sind einfach ungeduldig. Bis die erste Textstelle sie packt.

Steiget auf ihr alten Träume, öffne dich du Herzenstor. Liederwonne, Wehmutstränen strömen wunderbar hervor. Durch die Tannen will ich schweifen, wo die muntere Quelle springt, wo die stolzen Hirsche wandeln, wo die liebe Drossel singt. Auf die Berge will ich steigen, auf die schroffen Felsenhöhen, wo die grauen Schlossruinen in dem Morgenlichte stehen.

" Das ist jetzt direkt aus der "Harzreise"?
Ja, das ist aus der "Harzreise".
Wunderschön, ja.
Eine Schlossruine über uns am Ilsestein. "

Wir aber gehen andersrum, sagt Bach – andersrum als Heine. Nicht von Westen, von Göttingen über Osterode, Clausthal und Goslar Richtung Brocken – sondern von Osten auf Norddeutschlands höchsten Gipfel. 1141 Meter, immerhin. "Willkommen in der sagenumwobenen Wildnis des Nationalpark Harz" wirbt ein Schild gleich am Wegesrand und empfiehlt festes Schuhwerk. Neben Pflastern hat der Heineführer noch Aspirin, Voltaren, Aldi-Kräuterlikör, Obst und Schokolade in seinem Rucksack. Und natürlich Bücher. Beschreibungen berühmter Harzreisender. Goethe, Hans-Christian Andersen, Heine.

Es geht die Ilse entlang, leicht bergauf. Die ersten Sonnenstrahlen brechen sich durch dichtes Buchenlaub. Frühherbst, wie bei Heine. Nur geht der allein. Die Gruppe dagegen, in der Mehrzahl ausgeruhte Rentner und Rentnerinnen, paarweise. Einen schmalen Pfad, immer am Wasser entlang. Alle paar hundert Meter bleiben die sechs Frauen und zwei Männer vor großen, gelben Tafeln stehen. Darauf in dunkelgrüner Schrift: Textauszüge aus der "Harzreise".

" Ja, hier gehen wir mal rein. Ja, die haben das richtig schön ausgeschildert. Das ist ein Text für morgen eigentlich, wir sind morgen auf dem Ilsenstein. "

Weiter also. Ansgar Bach kennt den Weg in- und auswendig. Weiß, wann Heine wo war, welche Eindrücke er später wo in seinem Fragment niederschreibt. Längst sind auch ihm, dem Heineführer, Flora und Fauna vertraut.

Bach: " Hier unten viele Buchenwälder, im unteren Ilsetal, das wird sich dann mit der Höhe ändern, dann kommen wir zu Fichten, Nadelgehölz, dann sehen wir aber oberhalb auch, dass sehr viel abgeholzt wurde wegen der Borkenkäferplage und wenn wir noch höher kommen, ab 900 Meter, Krüppelkiefern, weil dann die Waldgrenze erreicht ist. Ob wir Fauna sehen, weiß ich nicht, vielleicht Hasen. Lachen. Jedenfalls die humane Fauna wird uns begegnen auf dem Rad oder als Wandersmenschen, die den Weg hochgehen. "

Bach organisiert und führt unter anderem Literarische Reisen nach Lübeck zu Thomas Mann, nach Spanien zu Hemingway und auf die Insel Hiddensee zu Gerhart Hauptmann. Heine im Harz aber: sein ganz persönliches Highlight.

" Also Heine ist erstmal göttlich, gibt wenig größere, der Witz ist einfach königlich … "

Das findet auch Doris. Sie führt den Literaturkreis an, reist mit ihrer Gruppe nicht das erste Mal auf den Spuren deutscher Dichter. Die energisch guckende Mittsechzigerin trägt eine kleinkarierte Stoffhose, dazu fellgefütterte, halbhohe Stiefel. Geht dicht hinter Bach. Ab und zu verzieht sie ihr Gesicht. Ein Stechen in der Hüftgegend.

Doris: " Mich hat die Brockenreise ursprünglich nicht gereizt, aber in diesem Jahr haben wir es dann doch gemacht und ich muss sagen, ich lese Heine sehr sehr gerne, weil mir seine ironische Art sehr schön finde aber auch seine lyrische und er bringt ja am Schluss seiner Gedichte noch einen Hieb dabei. "

Die spöttischen Bemerkungen über die Gesellschaft, die sich in der "Harzreise" abwechseln mit den poetisch schönen Beschreibungen der Landschaft. In einer seiner ersten Veröffentlichungen mischt der junge Dichter bedenkenlos literarische Gattungen, Fakt und Fiktion, wechselt zwischen Pathos und Ironie. 1824 ist das literarische Avantgarde.

Nach gut einer Stunde Wanderung erreicht die Gruppe ein kleines Plateau, auf dem in einen Findling eine Heine-Plakette aus Bronze eingelassen ist. Davor zwei schlichte Holzbänke, ein Tisch, auf dem Boden liegen eine leere Proseccoflasche, zwei Plastikbecher. Von hier oben können Besucher besonders gut sehen, wie die Ilse ins Tal fällt. Doch zuerst müssen sie rauf.

Bach: " Zwei fehlen noch. Frau Schäfer kommt, wenn se kommt. Geht es Frau Schäfer? "

Ilse Schäfer kämpft. Mit ihrer Kondition. Schon jetzt, nach knapp einem Drittel der Strecke. Die große, stämmige Frau trägt eine weite, blaue Regenjacke, Schal und Pullover aus dicker Wolle. Ihre Haare sind pitschnass geschwitzt, sie atmet langsam und schwer. Sie steigt über die letzten Wurzeln und Steine, kommt schließlich auf dem Plateau an.

" Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, die sie in ihrem Laufe findet, so dass das Wasser hier wild empor zischt oder schäumend überläuft, dort aus allerlei Steinspalten, wie aus tollen Gießkannen, in reinen Bögen sich ergießt, und unten wieder über die kleinen Stein hintrippelt, wie ein munteres Mädchen. So, jetzt muss ich mal schauen, ob wir das hier mit einbauen … "

Bach zögert einen Augenblick. Soll er schon hier eine der bekanntesten Textstellen aus Heines "Harzreise" zitieren? Die Flusslandschaft nimmt den Dichter schon früh so gefangen, dass er nur noch die "flötensüße Stimme" der sagenhaften Prinzessin Ilse zu hören glaubt, die um ihn wirbt. Und zwar in Gedichtform. Ansgar Bach kramt einen kleinen Spickzettel mit Zahlen aus der Brusttasche seiner Wildlederjacke – eine davon verrät ihm, auf welcher Seite das Gedicht steht. Er schlägt es auf, und liest:

Ich bin die Prinzessin Ilse,
Und wohne im Ilsenstein;
Komm mit nach meinem Schlosse,
Wir wollen selig sein.


"Unendlich selig" beschreibt Heine gleich im nächsten Absatz das Gefühl, wenn die Erscheinungswelt mit unserer Gemütswelt zusammenrinnt und grüne Bäume, Gedanken, Vogelgesang, Wehmut, Himmelsbläue, Erinnerung und Kräuterduft sich in süßen Arabesken verschlingen.

Bach: " Die Frauen kennen am besten dieses Gefühl und darum mag auch ein so holdselig ungläubiges Lächeln um ihre Lippen schweben. Ich schau mal kurz …Lacher. Wie im Traume fortwandelnd, hatte ich fast nicht bemerkt, dass wir die Tiefe des Ilsetals verlassen und wieder bergauf stiegen. "

Hier unterbricht Bach – und erklärt, warum:
Bach: " Da wir umgekehrt gehen, wir gehen ja nicht wie Heinrich Heine, sondern gehen dort bergauf, wo er bergab geht, ist es so, dass ich an dieser Stelle nicht weiter erzählen werde. "

Eberhard, ein weißbärtiger Pensionär, ist die Dramaturgie Heines offenbar egal. Er steht, auf einen Nordic-Walking-Stock gestützt, ein wenig abseits, beobachtet den Lauf der Ilse. An die flötensüße Stimme einer Prinzessin denkt er dabei nicht. Eher an einen Kinderreim.

Eberhard: " Dieser Spruch Ilse Bilse keiner willse is wohl nicht vom Heine. Nee, das ist doch – ganz oben, die Fischers Frau. "

Weiter bergauf. Bach geht jetzt ganz hinten, mit Ilse Schäfer. Ganz vorne marschiert Eberhard. Der Hobby-Winzer - gut im Training, weil er mehrmals im Jahr durch den Kaiserstuhl wandert – geht mit federndem Schritt, die Fußspitzen nach außen. Mit seinem Spazierstock sieht er dabei von hinten manchmal aus wie Charlie Chaplin.

Nach einer weiteren Stunde erreicht die Gruppe eine Lichtung. Hier: kaum noch Mischwald, kaum noch Buchen, dafür Fichten und andere Nadelhölzer. Direkt vor der Gruppe: ein ganzer Berghang – abgeholzt.

Bach: " Das ist der Borkenkäfer, der hier gewütet hat, und deswegen wird irgendwann die Rinde verbrannt, wir werden noch ganz viele Stellen davon erleben. "

Am Eingang dieser plötzlich nicht mehr so romantischen Umgebung steht ein Wanderstempelkasten. Bach setzt seinen Rucksack auf den Boden, schlägt einen kurzen Halt vor.

Bach: " Hier können wir noch ein bisschen Pause machen, was essen, was trinken … "

Das letzte Mal, sagt er leise, stand hier noch eine Picknick-Hütte mit gemütlichen Holzbänken. Ideal, um einzukehren, auszuruhen. Wie Heine, der an dieser Stelle einen jungen Schäfer trifft, von dem er erfährt, dass er vor dem berühmten Brocken steht. Der Schäfer lädt ihn ein auf einen Imbiss. Der Poet bedankt sich mit einem Gedicht. Erst dann steigt er hinauf auf den alten, sagenumwobenen Berg.

Bach: " Einen kleinen Text an dieser Stelle. "

Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafter werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrumpfen bis noch Heidelbeer- und Rotbeersträuche und Kräuter übrig bleiben.

" Wir springen etwas zurück. "

Bald empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen für die ich in jeder Hinsicht Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden. Sie haben es sich in der Jugend sauer werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersät und die meisten Bäume mussten mit ihren Wurzeln die Steine umranken oder sprengen, mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung schöpfen können. Und doch haben sie sich zu jener gewaltigen Höhe empor gewunden und mit den umklammerten Steinen stehen sie fester als ihre bequemen Kollegen im zahmen Forstboden des flachen Landes. So stehen auch im Leben jene großen Männer, die durch das Überwinden früher Hemmungen und Hindernisse sich erst recht gestärkt und befestigt haben. Auf den Zweigen der Tannen kletterten Eichhörnchen und unter denselben spazierten die gelben Hirsche.

Gelbe Hirsche spazieren nicht über den abgeholzten Hang, nicht mal ein Eichhörnchen ist zu sehen. Heines Bild mit den Bäumen aber, die auf den Steinen kämpfen – findet Bach sehr schön und treffend.

Bach: " .. war eben ein ganz besonders toller, der sehr viel Würde ausstrahlte. Ich hab´s aber für mich behalten, … "

… weil jeder auch seine kleinen, eigenen Entdeckungen auf einer Wanderung machen soll, findet er.

" Der Weg wird sich jetzt stark ändern, bisher ist er ja sehr romantisch. Also wenn man hier hochguckt, da oben ist der Brocken in den Wolken versteckt, wir haben jetzt ein Drittel der Höhenleistung geschafft, der wesentlich schwerere Teil kommt noch und es geht knüppelhart in die Beine. Wir werden den Querweg nehmen durch das Bruchholz, damit kürzen wir ab. Wer sich unsicher ist, der geht links über das Brockenbett und kriegt von mir eine Karte. "

Die Gruppe will abkürzen, auf direktem Weg nach oben. Alle, auch Ilse.
Der Weg jetzt: matschig und aufgeweicht, wenig später wieder fester, gemütlich und breit. Doris, Marianne, Ilse, Eberhard und die anderen haben ihren Rhythmus gefunden. Wandern, reden, diskutieren. Übers Segeln, über Bücher - über Türken in Berlin und Frankfurt. Immer wieder aber geht es in ihren Gesprächen auch um die Natur. Um Pilze, Spechte, Waschbären. Entdeckt unterwegs einer etwas, zeigt er es den anderen.

Marianne, eine schlanke, aparte Mittsechzigerin mit rotweiß-karierter Bluse, dickem Wollpulli und Thermohose, geht allein. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, huscht ab und an ein Lächeln über ihr Gesicht. Die Wanderung mit den Lese-Stopps, sagt sie, erinnert sie an früher, an ihre Kindheit:

" Da sind wir also ganz früh im Sommer losgegangen und dann sind wir Himbeeren pflücken gegangen. Und wie gesagt, meine Mutter war sehr belesen, da wurde über diesen Hügel meinetwegen Gretchen-Szenen gespielt oder Gedichte aufgesagt, also da fand nebenbei sehr viel Literatur statt. Das war schon sehr prägend muss ich sagen."

Marianne wächst nur ein paar Kilometer von hier entfernt, in Wernigerode, auf. Mit ihrer Schulklasse macht sie oft Ausflüge auf den Brocken, zu Fuß oder mit Skiern. Heine liest sie Anfang der 50er Jahre zum ersten Mal. Als "gackeriger Backfisch", sagt sie, in der siebten oder achten Klasse. Eine Szene amüsiert sie damals besonders:

" … als er ziemlich vom Brockengeist angeheitert da sein Nachtquartier aufsucht und entweder er oder sein begleitender Freund von da aus den Mond anhimmelte. Das ist so eine typische Stelle eines ziemlich betrunkenen Menschen und da haben wir uns köstlich amüsiert. "

Mit den Schulausflügen auf den imposanten Berg vor der eigenen Haustür ist es aber bald vorbei. Ab 1948 gehört der Brocken zur sowjetischen Besatzungszone, Besucher kommen nur noch mit Passierschein rauf. Und ab 1961 dann ist das Gelände militärisches Sperrgebiet. Da ist Marianne längst drüben, im Westen. Dass sie heute, über 50 Jahre später, auf der einen Seite hoch-, auf der anderen runterwandern kann – auch das, sagt sie, macht sie gerade so glücklich.

Hinter Marianne geht Doris. Sie sieht gar nicht glücklich aus. Bleibt plötzlich stehen, presst ihre Lippen aufeinander und fasst sich ans rechte Hüftgelenk. Doris hat Schmerzen. Möchte warten, bis der Heineführer mit der Reiseapotheke zu ihr aufgeschlossen hat. Alle, die sie in der Zwischenzeit überholen, winkt sie weiter. Die Zwangspause ist ihr offensichtlich unangenehm.

" Voltaren, Presinat, weiß nicht wieviel, Schluck Wasser. Zur Not ein Kräuterlikörchen.
Wo tut´s denn weh im Knie?
Hier oben, auf einmal.
Stock. Rucksack. … 70 Prozent deines Körpergewichtes trägt jetzt der Stock, schreiben se immer. … "

Doris, jetzt ohne Rucksack und mit Wanderstock, humpelt weiter bergauf. Die Gruppe hat jetzt noch knappe zwei Kilometer auf einem Betonplattenweg vor sich, am Ende gnadenlos steil. Die Platten sind noch ein Andenken an die Zeit, in der hier Abhöranlagen und Waffen rauf- und runtergekarrt werden.

Bach: " Damals, als der Brocken noch unter sowjetischer Militärverwaltung stand. Ja, jetzt ist das immer noch da, will keiner wegräumen, ist zu anstrengend. (Lachen.) "

Bach guckt sich jetzt alle paar Meter um. Er macht sich Sorgen um Doris. Noch weiter zurückgefallen ist Ilse. Sie hat den Heineführer weggeschickt. Ihm versprochen, dass sie es allein schafft.

Fast oben, am kleinen Brocken, wird der Bodennebel plötzlich dichter, die Sicht beträgt nur noch knapp 100 Meter. Bach bleibt stehen, blickt noch einmal nach hinten. Im Nebel zeichnen sich zwei Gestalten ab. Leicht nach vorne gebeugt, mit Kapuze und Stock – ein Bild wie zur Walpurgisnacht. Ilse kämpft sich langsam den Berg hinauf. Genau wie Doris, 50 Meter vor ihr.

" Ist denn etwas besser schon?
Geht so. Ich muss langsam machen. Schritte … "

100 Meter weiter geht plötzlich nichts mehr.

" Ist hier so, hier drin. Atmen. Ich kann nicht. "

Doris kann nicht mehr stehen. Stützt sich zuerst mit dem rechten Arm auf einen kniehohen Felsbrocken am Wegesrand, setzt sich dann darauf. Atmet ein paar mal tief durch und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Die Voltaren schlägt offenbar nicht an. Der Heineführer versucht es mit Goethe.

Bach: " Zu dem Wetter passt ganz gut, kann ich hier lesen von Goethe mal, was der so bei der "Harzreise" gedichtet hat. In Dickichtschauer drängt sich das raue Wild, mit den Sperlingen haben längs die Reiche sich in die Sümpfe sich gesenkt … "

Plötzlich lichtet sich der Nebel etwas, gibt zum ersten Mal den Blick frei auf den Gipfel. Auf die futuristisch anmutende Kuppel des Brockenhauses, den 123 Meter hohen Sendemast. Beides zum Greifen nah.

Bach: " Sieht aus wie ne NASA-Raketenstation das Ganze. Ja, sieht irre aus, hier links, ist doch Wahnsinn. "

Alle anderen sind längst oben. Jetzt stützt auch Doris sich wieder auf den Stock, humpelt weiter. Oben wartet Eberhard mit einer Überraschung.

" Berg heil! Berg heil, mein lieber Eberhard. Nun zeig ich euch gleich, warum ich meinen Stock nicht verliehen habe. Du bist die Erste. "

Eberhard schraubt vorsichtig den Holzknauf seines Nordic-Walking- Stocks ab, dreht ihn um. Und gießt aus dem hohlen Aluminiumunterteil eine Flüssigkeit ins Innere des Knaufs. "Marille", sagt er nur und "selbst gebrannt". Und reicht Doris den Knauf. Die nippt einmal, leert ihn dann in einem Zug.

Doris: " Lecker. Du das war, das bringt ja den Kreislauf wieder hoch. Ach, was bin ich froh. Das war lecker, da braucht man wirklich nur ein bisschen auf der Zunge, gell? "

" Berg heil. Das ist ja ein Stock. Da habe ich ja noch nie gesehen. Dann gib mir noch einen Schluck. Mmmh. Lecker. Der ganze Stock ist voll, ist das nicht herrlich ... "

Berg heil und Prost – so geht das zehn, 15 Minuten lang. Und wie bei Heine, der auf dem Gipfel Landsleute aus Göttingen trifft, wird allerlei Unsinn geredet. Bis endlich auch Ilse da ist. Vergessen all die Strapazen und Schmerzen. Mit dem Schnaps kehren die Lebensgeister zurück, die Muße für ein paar Zeilen Heine.

" Na wie geht’s. Bravo. Also ich möchte allen gratulieren, dass sie hier angekommen sind, war ne große Leistung. Berg heil. Wir wollen noch was lesen. "

Wieder der Griff in die linke Brusttasche, ein Blick auf den Spickzettel, einer in erschöpfte, aber glückliche Gesichter. Dann setzt Bach an.

Bach: " Ja, ein berühmter Ausspruch in der "Harzreise". Der Brocken ist ein Deutscher, mit deutscher Gründlichkeit zeigt er uns klar und deutlich wie ein Riesenpanorama die vielen hundert Städte, Städtchen und Dörfer, die meistens nördlich liegen und ringsum alle Berge, Wälder, Flüsse, Flächen unendlich weit. Nur leider haben wir heute ganz diesen Eindruck nicht, aber es ist auch sehr beeindruckend mit dem Nebel.
Der Berg hat auch so etwas deutsch ruhiges, verständiges, tolerantes, eben weil er die Dinge so weit und klar überschauen kann. Und wenn solch ein Berg seine Riesenaugen öffnet, mag er wohl noch etwas mehr sehen als wir Zwerge, die wir mit unseren blöden Äuglein auf ihm herumklettern. (…) Hier wird’s ja dann langsam auch kühl, wollen wir nicht übertreiben. "

Eine Textstelle will er aber noch lesen. Die, in der Heine, nach durchzechter Nacht vom Brockenwirt geweckt wird, um den Sonnenaufgang anzusehen.

Auf dem Turm fand ich schon einige Harrende, die sich die frierenden Hände rieben, andere, noch den Schlaf in den Augen, taumelten herauf … und schweigend sahen wir: wie am Horizonte die kleine, karmesinrote Kugel emporstieg, eine winterlich dämmernde Beleuchtung sich verbreitete, die Berge wie in einem weißwallenden Meere schwammen, und bloß die Spitzen derselben sichtbar hervortraten, so dass man auf einem kleinen Hügel zu stehen glaubte, mitten auf einer überschwemmten Ebene, wo nur hier und da eine trockene Erdscholle hervortritt.

"Um das Gesehene und Empfundene in Worten fest zu halten - folgendes Gedicht" heißt es bei Heine:

Heller wird es schon im Osten
Durch der Sonne kleines Glimmen,
Weit und breit die Bergesgipfel
In dem Nebelmeere schwimmen.


Hätt´ ich Siebenmeilenstiefel,
Lief ich mit der Hast des Windes
Über jene Bergesgipfel,
Nach dem Haus des lieben Kindes.


Eine Strophe später aber übermannt ihn der Hunger. Ähnlich geht es Ilse, Doris, Marianne, Eberhard und den anderen. Die jetzt, endlich oben, lieber Wildgulasch als Lyrik, Hefeklöße statt Heine wollen.

Eine Stunde später. Einstimmung auf den Abstieg. Doris beißt die Zähne zusammen, die Voltaren wirkt langsam. Eberhard prüft, ob der Knauf seines Spazierstockes sitzt. Der Heineführer liest.

Nur Marianne und Ilse sind nicht da. Marianne ist schon ein Stück weit vorgegangen, singt jetzt leise ein Kinderlied von Heine.

Und Ilse? Sie sitzt in der Brockenbahn, fährt zurück ins Tal.