Dunkle Schatten

22.06.2009
Jakob Noach hat den Holocaust überlebt, doch das Erlebte lässt ihn nicht los. Marcel Möring erzählt in "Der nächtige Ort" von der drückenden Last der Vergangenheit und der Suche nach Erlösung.
"Schreiben ist Fahnden", hat der niederländische Autor Marcel Möring einmal gesagt und von seinem "manischen Erinnerungszwang" gesprochen, wie ihn viele Juden hätten. Auch in seinem neuen Roman ist die Erinnerung Thema und der fast unmögliche Versuch, ein Leben nach dem Überleben des Holocaust zu ertragen.

Jakob Noach ist ein angesehener Bürger in seiner kleinen Heimatstadt. Hier ist er geboren, hier war er erfolgreich, und hier lebt er bis heute. Dennoch gehört er nicht dazu. Er ist Jude, ein Fremdling, einer, der sich drei Jahre lang während des Krieges in einem Erdloch verstecken musste – und als er in den Ort zurückkam, stand über dem Schuhladen seines ermordeten Vaters: "Völkische Buchhandlung Hilbrandts". Fast hätte er den neuen Besitzer erschossen. Doch dann packt ihn "eine brennende Art von Mitmenschlichkeit", und er vergräbt die Pistole im Wald.

Getrieben von Wut und Überlebensschuld rächt er sich, indem er reich wird. Doch innerlich bleibt er leer. Er hat eine Frau, die er nicht liebt, drei Töchter, von denen ihm nur eine nahe ist: Chaja, die Zahlenbegabte, die Trost in Primzahlen findet. Marcel Möring, der ein imposanter Geschichts- und Geschichtenerzähler ist, hat in seinem neuen Roman einen fantastischen Bilder- und Gedankenreigen aufgefächert. Denn er erzählt nicht nur diese eine und viele andere Geschichten, sondern beschäftigt sich auch mit Glauben und Philosophie, mit der Moderne, der Lebensleere, mit Liebessehnsucht und immer wieder mit ruhelosen Seelen.

Am 27. Juni 1980 begibt sich Jakob Noach auf eine Wanderung durch die Stadt, die Vergangenheit, den Wald, die Geschichte, sein Leben. Ausgerechnet in dieser Nacht, in der Zigtausende von Motorradfahrern aus ganz Europa für ein Bikertreffen in den Ort einfallen wie eine Plage. Eine saufende, pöbelnde, prügelnde Masse Mensch. Ausgerechnet in dieser Höllennacht sucht Jakob Noach nach Erlösung. Die Assoziation zu Dante ist fraglos gewollt. Lässt Möring doch auch einen seiner Protagonisten über "Die Göttliche Komödie" sagen, es sei: "Das Buch der Bücher. ... Ein getreueres Spiegelbild der Welt gibt es nicht."

Mörings Roman ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Selbst wenn man ihm nicht unterstellt, ein zeitgenössischer Dante sein zu wollen, hat er doch den Bogen so weit und hoch gespannt, dass selbst sein erzählerisches Können diesen großen Raum nicht immer ausfüllt. Da entgleisen schon mal Passagen ins Beliebige. Werden so scheinbar tiefschürfende und wiederholt eingefügte Sätze wie "Jetzt ist immer, hier ist jetzt. Jetzt ist immer … Weil alles hier ist. Weil dies alles ist", ein wenig grob strapaziert.

Doch die Bildermacht dieser fiebrigen Nacht, in der Jakob Noach ganz versunken in Gedanken und Visionen durch den saufenden Pöbel schreitet, mäandernd zwischen Wirklichkeit und Wahn, Vernunft und Trance, Philosophie und Mystik - Toten und Lebenden begegnend, ist packend und faszinierend zu lesen. Möring hat einiges gewagt, erzählt auf vielen Ebenen mit vielen Stilmitteln, mal grell, mal leise, mit Pathos und sogar in Sprechblasen und Comicstrips. Ein berstendes, lustvoll schwadronierendes, schmerzlich nach Sinn und Liebe suchendes Opus Magnum.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Marcel Möring: Der nächtige Ort
Roman
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Luchterhand Verlag, München 2009
560 Seiten, 24,95 Euro