Duell zweier Systeme

Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962
Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962 © Deutschlandradio
Vorgestellt von Hans-Ulrich Wehler · 06.04.2007
Der Historiker John Gaddis hat bereits mehrere Bücher über den Kalten Krieg verfasst. In seinem neuen Band schlägt er nun einen größeren historischen Bogen: Er bezieht die Entwicklung der Sowjetunion ab 1917 in seine Analyse der welthistorischen Systemkonkurrenz mit ein.
Eine "Neue Geschichte" hat der an der Yale-Universität lehrende renommierte Historiker John Gaddis seine letzte Darstellung des Kalten Krieges genannt. Ihm hat er zuvor bereits mehr als ein halbes Dutzend Bücher gewidmet, so dass er gewissermaßen zum angesehenen Hofhistoriographen dieses großen Systemduells aufgestiegen war.

Gaddis setzt diesmal aber früher als sonst ein: mit der Russischen Revolution, nicht mit der üblichen Zäsur von 1945 oder 1947, ehe er dann bis 1991 führt, bis zum Verfall der Sowjetunion. Wer sich so lange mit einem Thema beschäftigt hat, kann in der Regel kenntnisreich über es berichten. Das tut Gaddis auch in souveräner Manier wie so oft zuvor.

Er beginnt, das ist eine folgenreiche Vorentscheidung, mit der Gründung und dem Aufstieg der Sowjetunion von 1917 bis 1950, geht also von einer 30-jährigen Latenzphase aus, nach dem mit dem bolschewistischen Imperium der große Unruhestifter in das 20. Jahrhundert eingetreten war. Die meisten Historiker würden den Beginn des Kalten Krieges auf 1945 oder 1947 datieren, als der Konflikt der beiden Weltmächte klar zu Tage trat und seither die Weltgeschichte vier Jahrzehnte lang beherrschte.
Der Verfasser schildert präzis die Spannungszunahme mit der deutschen Teilung, der Truman-Doktrin, der Gründung der NATO, schließlich mit dem Übergang zum "heißen" Koreakrieg seit 1950, dem atomaren Patt und der Zähmung der Kuba-Krise.

Es folgen der Vietnam-Krieg, die Entspannungspolitik der 70er Jahre mit ihrem Höhepunkt in den Helsinki-Beschlüssen und am Ende die osteuropäische Revolutionswelle seit 1989 bis hin zur Erosion der Sowjetunion. Dieser Zerfall eines der beiden großen Kontrahenten besiegelte das Ende jenes Konflikts, der aufs Ganze gesehen, da der offene Zusammenstoß der Weltmächte vermieden werden konnte, den Namen des Kalten Krieges verdient.

Gaddis kommt zu einem bemerkenswert positiven Urteil über Reagans Außenpolitik, welche die Sowjetunion ökonomisch in die Enge getrieben habe, dann aber doch zu Kompromissen bereit gewesen sei. Aber er fragt nicht nach den Ursachen des Zerfalls der kommunistischen Weltmacht. Sie lagen letztlich in der Lernunfähigkeit eines Systems, das sich im Besitz einer die historische und politische Wahrheit speichernden Ideensystems wähnte, deshalb aber nicht mehr pragmatisch, geschweige denn innovativ auf veränderte Weltlagen reagieren konnte – bis Gorbatschow das als neue Schlüsselfigur auf überraschende, ganz und gar unerwartete Weise tat.

Gaddis kennt die Probleme seines Themas, er präsentiert auch anregende Urteile. Aber insgesamt ist seine Interpretation des großen Duells der klassischen amerikanischen Perspektive verpflichtet, dass von der Sowjetunion die ausschlaggebende, gefährliche Dynamik in der Weltpolitik ausgegangen sei, die Amerika überall einzudämmen versuchte. Es wäre töricht, nach dem Untergang der bolschewistischen Diktatur die Expansionsbereitschaft ihrer Politik und ihres Weltbildes zu unterschätzen. Aber ist der Kalte Krieg im engeren Sinne, also die bipolare Welt von 1945 bis 1991 nicht doch durch den Zusammenstoß von zwei expansiven Bewegungen gekennzeichnet gewesen? Lief nicht parallel zur sowjetischen Ausdehnung der amerikanische Vorstoß auf den Weltmarkt, nach zwei gewonnenen Weltkriegen getragen von dem Siegesbewusstsein, dass die "offene Tür" einer globalen Freihandelspolitik dem riesigen amerikanischen Potenzial die Vorherrschaft auf allen Märkten und den politischen Umbau letztlich aller Länder im Sinn des "American Way of Life" verschaffen werde?

Fraglos verlief dieser Vorstoß ungleich friedlicher und zivilisierter als die kommunistische Ausbreitung. Aber aus ihrer Perspektive konnte die amerikanische Weltpolitik als zielbewusster Vormarsch eines übermächtigen Gegners gedeutet werden.

Der diesen Zusammenprall betonenden revisionistischen Schule in der amerikanischen Geschichtswissenschaft, zu der einige der besten Köpfe unter den Historikern der amerikanischen Außenpolitik gehören, widmet Gaddis kein Wort, obwohl diese Kritiker es verdient hätten, ernst genommen zu werden. Überhaupt zeigt Gaddis für herausfordernde Interpretationsfragen, die im Diskurs der Fachleute noch keineswegs entschieden sind, kein Interesse. Deshalb kommen auch die eigentlichen spannenden Fragen nach der Natur des Kalten Krieges nicht zur Geltung. Glücklicherweise lässt sich Gaddis jetzt schnell korrigieren. Mit der gelungenen Synthese des Zeithistorikers Bernd Stöver "Der Kalte Krieg 1947-1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters" liegt seit dem Frühjahr 2007 eine komplexe Analyse und ganz so zugreifende wie unfassende Interpretation dieser welthistorischen Systemkonkurrenz vor.

John L. Gaddis: Der Kalte Krieg - Eine neue Geschichte
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Siedler Verlag, München 2007
John L. Gaddis: Der Kalte Krieg
John L. Gaddis: Der Kalte Krieg© Siedler Verlag