Drogenkrieg

Schlimmer als Ciudad Juarez

Von Johannes Metzler · 20.11.2013
Früher war das mexikanische Acapulco ein Traumziel für die Reichen und Schönen. Heute hat der Drogenkrieg die Stadt im Griff. Es ist ein Ort der Entführungen, Erpressungen und Überfälle.
Berna Hernández jagt seinen verbeulten Nissan durch die Dunkelheit, durch leere Straßen. Weg vom Meer und den teuren Hotels unten am Strand, die Hügel hoch, wo die armen Stadtviertel von Acapulco beginnen. Mit einer Hand lenkt er, mit der anderen presst er sein Handy ans Ohr. Endlich: Der Informand gibt eine genaue Adresse durch.
"Bueno, qué onda carnal?"
Auf dem Rücksitz liegt griffbereit seine Spiegelreflexkamera. Berna, der Mann mit dem pechschwarzen Pferdeschwanz, ist Polizeireporter in Acapulco - einer der Letzten, die sich noch trauen, den Verbrechen hinterherzufahren. Sie haben sein Auto vor seinen Augen abgefackelt und ihm gedroht, sie haben ihn beschossen und geschlagen. Aber er macht weiter. Und muss auch an diesem Abend seine Fotos machen, bevor sie die Leichen abtransportieren.
Der Wagen stoppt in einer Wohnstraße mit mehrstöckigen Häusern. Polizisten stehen hier, schwere Waffen im Anschlag, sie tragen kugelsichere Westen. Die Gesichter der Beamten sind ausdruckslos.
Mitten auf der Fahrbahn: ein roter Kleinwagen, der Motor läuft noch, die Scheinwerfer sind eingeschaltet. An den Türen Einschusslöcher, auf dem Fahrersitz zusammengesackt ein junger Mann, Anfang 20, überall ist Blut. Neben ihm sitzt seine Freundin. Beide sind tot.
1170 Morde in einem Jahr
Auf den Balkonen der Häuser stehen Menschen, einzeln und in kleinen Gruppen. Sie schauen, aber niemand spricht. Niemand will etwas gesehen haben. Eine Frau im weißen Kittel macht eifrig Notizen auf einem Klemmbrett. Die Kriminaltechnik. Aber wer die Mörder waren, die auf das Auto schossen, wird wohl auch diesmal nicht ermittelt. Alltag in Acapulco: Im vergangenen Jahr hat es in der Stadt 1170 Morde gegeben. Nur drei Prozent davon wurden aufgeklärt. Für einen Großteil der Gewalttaten sind die Drogenkartelle verantwortlich, die sich in der Stadt gegenseitig bekriegen und die Bevölkerung terrorisieren. Der erbitterte Kampf hat einen Grund: Die Stadt besitzt einen der wichtigsten Häfen am Pazifik. Wer ihn beherrscht, hat den Zugang zum Meer in Richtung Kolumbien und Peru - und von dort kommt das Kokain, das dann in Richtung Vereinigte Staaten weitergeschmuggelt wird. Die Drogen erreichen die Stadt versteckt in Containern. Und manchmal bringen die Banden sie auch mit primitiven selbst zusammengeschweißten U-Booten über den Pazifik. Ein erheblicher Teil der Kokainlieferungen nach Mexiko, so schätzen Experten, landet in Acapulco. Ausgerechnet in Acapulco - dabei ist die Stadt doch für etwas ganz anderes bekannt: Für das grüne Meer, die langen Sandstrände, das sommerliche Wetter.
Soldat in einem Militär-Jeep
Miltiär-Einsatz gegen die Drogenbanden© Johannes Metzler
Gewalt schreckt Touristen ab
Der nächste Morgen. 29 Grad und Sonnenschein. Die sanft geschwungene Bucht von Acapulco wird gesäumt von Hotels, einer Kette weißer Hochhäuser. Davor ein breiter Sandstrand, dahinter grüne Berge. Dies ist das Acapulco der Reise-Prospekte. Aber die Liegen unter den Sonnenschirmen sind verwaist. Ein Verkäufer, der ein Bündel mit bunten Hängematten dabei hat, läuft einsam über den Strand.
Ein Quad fährt vorbei: ein Motorrad mit vier Rädern, das über Sand fahren kann. Ein Mann und eine Frau - die "Touristenpolizei“. Sie tragen schicke blütenweiße Uniformen, keine Waffe. Und sehen aus wie Stewards auf Kreuzfahrtschiffen. Wobei Kreuzfahrtschiffe in Acapulco nicht mehr anlegen - wegen der Sicherheitslage.
Nezah Peralta sitzt in einer Strandbar unter einem Schirm aus Palmwedeln. Der Tourismus-Sekretär der Stadt ist ein Mann um die 30, er trägt Poloshirt und Jeans. Es gehe aufwärts und die Besucher kämen wieder zurück. Der Tourismus - vom Drogenkrieg nicht betroffen.
"Sicherheitsprobleme gibt es doch überall"
"Heute kann jeder Tourist hier auf unserer wichtigsten Strand-Avenida laufen, ohne dass was passiert. Der touristische Bereich ist abgeschirmt. Aber ich betone auch: Sicherheitsprobleme gibt es doch überall mal. Auf den Champs Elisée in Paris zum Beispiel. In allen Städten von Mexiko und in der ganzen Welt.“
Nur dass in Paris eben nicht jeden Tag zehn oder zwanzig Menschen durch Kugeln sterben, sagt Berna Hernández, der Fotoreporter. Aber davon sollen die Besucher nichts mitbekommen. Die Stadtverwaltung hat die Zeitungsverkäufer von der Strand-Avenida verbannt, damit flanierende Touristen nicht zufällig die Schlagzeilen der lokalen Blätter sehen. Berna ist früh aufgestanden, weil sie ihn wieder angerufen haben: Der erste Tote des Tages war eine Hinrichtung. Dann hat der Polizeireporter an einer Tankstelle gehalten, um sich Frühstück zu holen: Eine Plastikflasche mit einem orangefarbenen Energydrink. Jetzt steuert sein Auto durch den dichten Verkehr. Zwischen den Hotels der Avenida glitzert das Meer - er fährt durch das Acapulco der Touristen, das angeblich so gut abgeschirmt ist.
Berna Hernández: "Das ist ein Lüge, dass die Behörden behaupten, dass sie alles unter Kontrolle haben. Erst vor drei Monaten habe ich Fotos gemacht von einem Menschen, der sie an einem Baum aufgehängt hatten. Mitten auf der Strand-Avenida, beim Kongresszentrum. Die Lage ist schwierig.“

Der Fotograf Berna Hernández an der Strandpromenade von Acapulco
Berna Hernández dokumentiert das Grauen des Drogenkriegs© Johannes Metzler
Der Kampf gegen das Verbrechen ist verloren
Und nur wenigen Minuten vom makellosen Strand entfernt beginnt das andere, das schmutzige Acapulco. Berna fährt aufwärts durch eine breite Straße, rechts und links gesäumt von Geschäftshäusern. Aber die meisten Läden sind verrammelt, viele Rollläden mit Graffiti beschmiert. Die Besitzer haben dicht gemacht, sind gegangen, weil sie die Schutzgelder nicht mehr bezahlen konnten. Berna kurbelt das Fenster herunter und deutet auf eine Polizeistation, eine Festung aus grauem Beton, ohne Fensterscheiben. In den Wänden Einschusslöcher. Es waren drei Angriffe, jetzt will kein Polizist hier mehr arbeiten.
Auch der Polizei-Kommandant nicht, der später am Nachmittag seine Sicht der Dinge schildert. Das Interview ist für ihn gefährlich. Er will seinen Namen nicht sagen, auch der Ort des Gesprächs muss geheim bleiben. Der Comandante sagt: Der Kampf gegen das Verbrechen ist verloren:
"Wir haben weder deren Ausrüstung noch deren Munition. Das ist ein ungleicher Kampf. Diese Verbrecher sind überall, aber die große Mehrheit meiner Kollegen schaut weg - aus Angst, denn wir haben Familie und Kinder. Es ist schlimm: Wenn sie an Dich nicht rankommen, nehmen sie sich Deine Frau, Deine Kinder und Neffen vor. Viele Kollegen haben darum resigniert.“
Dabei hat der Drogenhandel in Acapulco eine lange Tradition. Allerdings fand er immer im Stillen statt. Denn es gab nur ein einziges Kartell und einen einzigen Boss: Arturo Beltrán Leyva. Im Jahr 2009 war für ihn Schluss. Agenten der US-amerikanischen Anti-Drogen-Behörde spürten ihn auf. Und der "Chef der Chefs“, wie sie ihn nannten, starb im Kugelhagel. Sein Kartell zerfiel. In Acapulco begann die Auseinandersetzung um sein Erbe - und damit der Krieg. Zwischenzeitlich versuchten fünf Gruppierungen, die Oberhand zu gewinnen. Die Polizei fand abgeschlagene Köpfe in Müllbeuteln und zerstückelte Körper. Gleichzeitig erschlossen sich die Banden zusätzliche Einkommensquellen. Acapulco, die einstige ruhige Strandstadt, wurde nun zu einem Ort der Entführungen, Erpressungen und Überfälle.
Im Zentrum von Acapulco: Geschäftsleute im gebügelten Hemd laufen im Schatten der Bäume über den Zócalo, den zentralen Platz. Kellner stehen vor einem Restaurant und unterhalten sich. Dann fährt eine Polizeistreife fährt vorbei, auf der Ladefläche sitzen schwer bewaffnete Beamte, einer steht vor einem Maschinengewehr. Und ein Lautsprecherwagen hält an - Werbung für eine Boulevard-Zeitung.
"Die schrecklichen Morde gehen weiter hier in Acapulco! Wir zeigen das Foto der Lehrerin, die vor ihrer Grundschule hingerichtet wurde!“
Ein heruntergekommenes Geschäftsgebäude, gelegen in einer Seitenstraße. Im Flur riecht es nach Chlor-Reiniger.
Am Ende eines dunklen Korridors: eine Tür, dahinter ein kleines Büro. In der Ecke surrt ein Ventilator. Der Mann, der hier arbeitet, bittet, seinen Namen nicht zu nennen. Schon vier Mal haben sie seinen Laden in der Innenstadt überfallen. Jetzt kämpft er gegen die Pleite. Dann erzählt er, was die Stadtverwaltung offiziell abstreitet. Im ganzen Zentrum werden Schutzgelder bezahlt - ein zusätzlicher Geschäftszweig der Kartelle. Auch Diskotheken und Restaurants in der Touristen-Zone seien längst dran. Wer sich weigert, wird zum Ziel von Auftragskillern. Der Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn und schaut traurig.
Unter dem Gesetz der Drogenbanden
"Acapulco ist wunderschön, wenn man als Besucher herkommt. Wenn Du ein Wochenende hier verbringst, wirst Du Dich verlieben. Aber zum hier wohnen ist es die Hölle. Wir leben hier unter dem Gesetz der Drogenbanden. Wenn unsere Behörden eine wichtige Entscheidung treffen wollen, müssen sie das erst mit den Narcos absprechen.“
Mitten im Revier der Narcos liegt die blau gestrichene Pfarrkirche von Padre Jesus. Der Blick von hier oben ist schön: Er erstreckt sich über die ganze Bucht mit den teuren Hotels.
Der katholische Priester hat graue Haare. Mit langsamen Schritten geht er eine Treppe hoch. Dann schließt eine vergitterte Tür auf. Dahinter ein kahler Raum, in dem zwei Sofas stehen.
Padre Jesus: "Dies hier ist ein Raum, in dem wir Familien empfangen von Ermordeten, Entführten und Verschwundenen.“
Vom Späher zum Auftragskiller
Das hat er sich nicht ausgesucht. Es hat sich ergeben. Auf einem viel befahrenen Straßenabschnitt direkt unterhalb seiner Kirche sind in zwei Jahren rund 25 Menschen gestorben. Der Padre hat jetzt eine weiße Fahne gehisst - als Zeichen des Friedens. Aber Frieden ist unrealistisch, so lange es die Kartelle so leicht haben, junge arbeitslose Männer anzuwerben. Die Drogenbanden bieten ihnen schnelles Geld. Wer neu einsteigt, beginnt erstmal als "Falke“ - als Späher, der Informationen weiterträgt. Die Falken haben ein Motorrad und besitzen meistens schon ein schickes Smartphone, die sie sich normalerweise nie leisten könnten.
Oft ist der Job der Einstieg, viele enden später als Auftragsmörder. Es gibt eine systematische Nachwuchsrekrutierung, sagen Fachleute. Denn Nachwuchs brauchen die Banden, weil ihre Mitglieder oft früh sterben - meistens durch Gewalt. Auch sie, die Täter, kommen manchmal zu Padre Jesus. Sie sitzen dann vor ihm in dem engen Büro, in dessen Regalen sich Bücher türmen. Junge Leute, die nicht mehr wissen, wie viele Menschen sie gequält, gefoltert, erschossen und zerstückelt haben. Es sind gespaltene Persönlichkeiten, sagt der Pater, einerseits gewöhnt an ihre brutalen Verbrechen, abgestumpft und kalt. Aber das sei nur die halbe Wahrheit.
Padre Jesus: "Sie leiden. Deswegen glaube ich, nehmen fast alle Drogen. Nur so schaffen sie es, sich irgendwie zusammenzureißen und auf dem Weg des Verbrechens zu bleiben. Nur so unterdrücken sie alle menschlichen Gefühle. Und verwandeln sich in Bestien.“
Es ist wieder dunkel geworden in Acapulco. An der Strandpromenade sind die Lichter entflammt, die Stadt funkelt an den Hängen. Berna Hernández, der Polizeireporter, macht an der Avenida Pause, um einen Taco zu essen. Es ist das Erste, was er seit dem Energydrink am Morgen zu sich nimmt. Er hat wenig Hunger, ständig, sagt er, spürt er das Adrenalin. Aber er kann nicht mehr alles so wegstecken, wie er es gerne möchte.
Berna Hernández: "Jetzt nach all der Zeit wache ich manchmal nachts verschwitzt auf. Ich träume, dass sie mich verfolgen, auf mich schießen, mich erstechen. Manche sagen: ein Psychologe kann Dir helfen. Aber ich glaube, das stimmt nicht. Ich hab versucht, stark zu sein. Und ich bin stark. Aber jetzt stelle ich fest, das mir nach den Jahren doch psychische Sachen passieren.“
Aber wo er auch unterwegs ist, für ihn ist der Drogenkrieg immer da. Er zeigt auf ein vorbeifahrendes Motorrad. Kein Nummernschild, der Fahrer trägt keinen Helm, ein junger Mann. An der Seite das rote Zeichen von Ferrari - in Acapulco gilt es als Wappen einer Bande. Kein Polizist in dieser Stadt wird den jungen Mann anhalten. Es sind Dinge, die nur sieht, wer Bescheid weiß. Die Touristen, die noch herkommen, wissen nicht Bescheid.
Eine Gruppe junger Leute tanzt auf dem Bürgersteig vor einem fast leeren Nachtclub. Einen Moment lang ist alles so wie früher - Acapulco, wie es mal war. Das Acapulco der Tequilas und eiskalten Cervezas. Schutzgelderpressung, Mord und Folter - all das scheint weit weg. Berna schaut auf sein Handy. Eine Nachricht, er muss los, wieder Fotos machen von dem anderen Acapulco. Jenem Acapulco, in dem es kein Gesetz mehr gibt. Und das sich eingebrannt hat in seinen Alpträume.