Drogenabhängig im Gefängnis

Der lange Kampf gegen den kalten Entzug

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Das Tor zur Justizvollzugsanstalt in Bernau am Chiemsee (Bayern) ist am 14.03.2014 geschlossen. Foto: Andreas Gebert/dpa
Die Justizvollzugsanstalt Bernau: eine "Drogenhölle", wie die dort tätigen Beamten selber sagen. © picture alliance/dpa/Andreas Gebert
Von Timo Stukenberg · 21.06.2021
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Wer drogenabhängig ins Gefängnis kommt, dem drohen die Strapazen eines kalten Entzugs oder die Gefahren des Schwarzmarkts. Die Ausgabe von Ersatzstoffen wird empfohlen, von den Gefängnissen aber oft verweigert. Ein Anwalt hält das für Folter.
"Die JVA Bernau sieht eigentlich ganz idyllisch aus." Claudia Jaworski ist nach Höhenkirchen-Siegertsbrunn gekommen, um sich mit zwei ehemaligen Insassen der Justizvollzugsanstalt Bernau zu treffen. Die beiden wohnen hier, südöstlich von München, in einer Therapieeinreichtung für Suchtkranke.
"Als ich in die JVA Bernau gekommen bin, haben die Beamten zu mir gesagt: 'Jetzt geht’s in die Drogenhölle.'"

"Ich wollte nicht, dass er rückfällig wird"

Seit auch Jaworskis Bruder im April 2018 in die JVA Bernau verlegt wurde, hat sie nicht nur ihn, sondern auch andere Gefangene dort regelmäßig besucht. Für sie seien diese Treffen ein Fenster in die Anstalt, in der es ihrem Bruder immer schlechter ging.
Ihr Bruder, der anonym bleiben möchte, ist schon sein halbes Leben lang heroinabhängig. Vor der Haft wurde er substituiert, bekam per Rezept einen Drogenersatzstoff. Doch hinter den Gittern der JVA Bernau drohte ihm der kalte Entzug.
"Ich wollte nicht, dass er rückfällig wird und vielleicht zur Spritze greift, die vielleicht auch noch infektiös ist, und deswegen habe ich eingegriffen."

"Das war aus eigener Überzeugung"

Weil der Anstaltsarzt ihrem Bruder eine Behandlung mit dem Substitutionsmittel Subutex verwehrte, entschloss sich J., ihm das Mittel ins Gefängnis zu schmuggeln. Im Oktober 2019 sitzen sie sich im Besucherraum der JVA Bernau gegenüber, wo sie ihm heimlich zwei Tabletten überreicht.
Als der Bruder auf die Toilette geht, folgt ihm ein Beamter und erwischt ihn mit den Tabletten. Kameras haben die Übergabe aufgezeichnet. Für die Staatsanwaltschaft ist es ein klarer Fall. Sie beantragt einen Strafbefehl wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln. 7200 Euro soll J. als Strafe zahlen.
"Nachdem die Möglichkeit bestand, ihm das zu übergeben und er ein Häuflein Elend war, hat sich die Frage für mich nicht gestellt, ob ich das mache. Für mich war das einfach die Kompensation der verletzten Fürsorgepflicht des Anstaltsarztes. Das war aus eigener Überzeugung."
Jaworski sieht nicht sich als Straftäterin, sondern den Anstaltsarzt, der ihrem Bruder den Drogenersatz verweigerte. Sie legt Einspruch gegen den Strafbefehl ein und lässt es auf einen Prozess ankommen.

Wer vorher nicht substituierte, hat im Gefängnis keine Chance

Michael Altmann, der in der Therapieeinrichtung in Höhenkirchen-Siegertsbrunn lebt und derzeit mit Methadon substituiert wird, unterstützt sie darin. Der 41-Jährige war bereits dreimal in der JVA Bernau inhaftiert.
"Als ich mich gestellt habe, bin ich gleich zum Arzt gegangen und habe gesagt: ‚Hier, pass auf, hier Heroinentzug und so, wies ausschaut, ich würde mich gerne substituieren lassen.’ Und dann kam halt die Antwort: ‚Waren Sie draußen substituiert?’ – Nein, natürlich nicht. Draußen habe ich ja meinen Stoff gehabt, also für was substituieren? Dann hat er gesagt: ‚Ja, dann hast du Pech gehabt, dann kriegst du gar nichts hier.’"
Einen Tag nach unserem Treffen beginnt der Prozess gegen Claudia Jaworski vor dem Amtsgericht Rosenheim. Ihr Bruder ist als Zeuge geladen. Auch er hatte den Anstaltsarzt nach eigener Aussage gleich nach seiner Inhaftierung um eine Substitution gebeten.
"Der hat mich auf den Hofgang geschickt. Er hat gesagt: 'Wir substituieren dich hier nicht. Wenn du willst, hol es dir im Hofgang.' Ja, was blieb mir anders übrig? Übern Hofgang sich bei anderen Mithäftlingen, die schon länger da sind, Alternativ-Wirkstofftabletten wie Subutex, Tillidin zu besorgen."

Auf dem Schwarzmarkt drohen Verschuldung und Gewalt

Wenn sich Gefangene selbst substituieren, gehen sie damit ein großes Risiko ein. Der Nachschub auf dem gefängnisinternen Schwarzmarkt ist unregelmäßig und teuer. Opioidabhängige Gefangene erleben so immer wieder tage- und wochenweise kalte Entzüge.
Die Tabletten werden möglicherweise zerkleinert und gestreckt. Wer sich seine Substitution nicht leisten kann, verschuldet sich, was dramatische Folgen haben kann. Im August 2019, zwei Monate vor der Übergabe, für die sich Jaworski nun vor Gericht verantworten muss, ist in der JVA Bernau ein Gefangener von Mithäftlingen getötet worden.
Auch ihr Bruder fürchtete den Zorn der Mitgefangenen, wenn er die Drogenschulden nicht zurückzahlen könnte.
"Ich habe das live miterlebt. Da gehen einem halt viele Dinge durch den Kopf. Ich habe selber ein Kind und man möchte auch nicht selbst, dass einem sowas passiert. Also denkt man sich: 'Ja, bevor man dann vielleicht, irgendwie großartig Schulden macht, dass ich mir von meiner Schwester was reinbringen lasse."

Anwalt hält unterlassene Substitution für Folter

Dass den Insassen der JVA Bernau eine Substitution verweigert wurde, bestreitet Anstaltsleiter Jürgen Burghardt nicht. Die Behandlung der JVA sei bis 2017 "fast ausschließlich abstinenzorientiert" gewesen, schreibt er auf Anfrage.
Seitdem sei die Substitutionsbehandlung jedoch stetig ausgeweitet worden. Der Darstellung, dass der Arzt Gefangene auf den Hofgang geschickt habe, um sich dort mit Betäubungsmitteln selbst zu versorgen, widerspricht der Anstaltsleiter.
Richterin Melanie Bartschat lässt daran im Gerichtssaal jedoch wenig Zweifel erkennen. Ihr seien diese Vorwürfe aus anderen Verfahren bekannt, betont sie im Prozess.
Die Angeklagte Jaworksi habe deshalb gar nicht anders handeln können, argumentiert ihr Strafverteidiger Ahmed Amed und beruft sich dabei auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshof.
"Da ist ganz klar zum Ausdruck gebracht worden, dass das Unterlassen einer Substitutionsbehandlung natürlich zu Leiden führt, psychisch und physisch. Wenn dann die entsprechende Ärzteschaft eine medizinisch indizierte, also notwendige Behandlung wider besserer Kenntnis nicht anordnet, nicht umsetzt, dann ist das der Klassiker der Folter und das beschämende ist: das Ganze in einem Rechtsstaat."

Bundesärztekammer rät zur Ausgabe von Ersatzstoffen

Heino Stöver, Direktor des Instituts für Suchtforschung an der Fachhochschule Frankfurt, geht davon aus, dass zwischen 30 und 40 Prozent aller Gefangenen opioidabhängig sind und eigentlich Ersatzstoffe brauchen.
Substitutionsbehandlungen seien jedoch in vielen deutschen Gefängnissen noch nicht ausreichend.
"Da wird die Substitutionsbehandlung zum Teil als ein Geschenk gesehen. Dem ist nicht so! Die Substitutionsbehandlung ist die zentrale Krankenbehandlung. Die Ärzte haben ja wenig andere Optionen. Deshalb hat die Bundesärztekammer auch gesagt, dass die Substitutionsbehandlung bei opioidabhängigen Patienten die Methode der Wahl ist, wenn es keine Kontraindikation gibt."

Richterin nennt Verweigerung der Substitution eine "Frechheit"

Urteilsverkündung im Saal 21 am Amtsgericht Rosenheim. Die Richterin findet deutliche Worte. Sie nennt die Verweigerung der Substitution in ihrer Urteilsbegründung eine "Frechheit".
Für schuldig hält sie Jaworski trotzdem. Ihr Bruder habe noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft, um eine Substitution zu erzwingen, befindet die Richterin. Statt 90 muss sie jedoch nur 60 Tagessätze zahlen. Jaworski will dagegen gerichtlich vorgehen. Ihr geht es ums Prinzip.
In der JVA Bernau gibt es immerhin Fortschritte: Rund 90 der 800 Insassen bekommen mittlerweile Ersatzstoffe.
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