Dresdner Orchesterprojekt Musaik

Kostenlos Geige lernen in der Plattenbausiedlung

Naomi (l) und Joyce probieren am Dienstag (26.08.2008) ihre neuen Geigen aus, die der Bundespräsident zuvor an Grundschüler der Martin-Luther-Grundschule im Rahmen der Initiative «Jedem Kind ein Instrument» in Gelsenkirchen übergab.
Jedes Kind kann ein Instrument lernen, doch meist ist das abhängig vom Elternhaus und Umfeld. © Rolf Vennenbernd
Von Bastian Brandau · 27.06.2018
Ein Kinder-Streichorchester? Die Idee zweier Musikpädagoginnen stieß in Dresden-Prohlis zunächst auf Skepsis. Denn das sozial schwache Viertel gilt nicht gerade als Hort hoher Kultur. Doch Musaik – Musik in Aktion – ist ein voller Erfolg, wie Bastian Brandau berichtet.
"Ach-tung – Gei-gen…"
Stirnkräuseln, konzentrierte Kinderaugen fixieren die Noten, die an einer Tafel festgemacht sind. Finger suchen auf Griffbrettern nach den Tönen des Titanic-Titelsongs. Etwa zehn Kinder sitzen an diesem Nachmittag auf weißen Hockern in einem Einkaufszentrum. Gut sichtbar für die Passanten, die draußen vorbeigehen.
"Dritter Finger, Achtung"
"Oh je, wir müssen nochmal die Wiederholung spielen – Nein!"
Die Stimmung ist locker, es wird viel gelacht. Musaik – Musik in Aktion ist das Projekt der beiden Dresdner Musikpädagoginnen Luise Börner und Deborah Oehler. Sie zeigen, korrigieren – und spielen mit. Beide können, wenn es sein muss, aber auch ganz schön streng sein. Sonst würde es nicht gehen angesichts der Anzahl und der Lebhaftigkeit der Kinder. In Peru haben Cellistin Oehler und Geigerin Börner beim Aufbau eines Jugendorchesters mitgeholfen. Es war dem venezolanischen "El Sistema" nachempfunden. Genau wie jetzt das Projekt Musaik – grenzenlos musizieren, erklärt Börner:
"Das Wichtige ist eben bei 'El Sistema' der kostenlose Zugang, der auch der große Unterschied ist zur Musikschule hier. Und die Zeitintensität. Also das ist ganz wichtig, dass die Kinder dreimal die Woche kommen, das ist eigentlich schon Minimum. Wir würden sogar am liebsten, dass sie noch mehr kommen, weil wir das häusliche Üben, was ja eigentlich notwendig ist, um auf einem Instrument voranzukommen, entkoppeln wollen von dem Elternhaus, was eventuell nicht unterstützt hier in dem Umfeld, in dem wir uns befinden."

Viele Menschen in Prohlis leben von staatlicher Hilfe

Hier – das ist der Dresdner Stadtteil Prohlis, eine Neubausiedlung im Plattenbaustil. Viele Menschen in Prohlis leben von staatlicher Hilfe, der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist vergleichsweise hoch. Zuletzt sind viele Geflüchtete nach Prohlis gezogen.
"Wir wurden am Anfang auch belächelt, ja Geige in Prohlis, wollen die das überhaupt? Gibt’s da überhaupt Interesse? Aber ich denke, man muss es kennenlernen und dann entscheiden, ich mag das, oder ich mag das nicht, und die Möglichkeit haben die Kinder hier."
Gefördert von Vereinen und Stiftungen und der Stadt Dresden. Bei Musaik musizieren 25 Kinder gemeinsam, egal welche Musik sie zu Hause hören und woher sie kommen. Etwa die Hälfte hier habe einen Migrationshintergrund. Wie es sich anfühlt, zu Musaik zu gehen? Die 11-jährige Emily beschreibt es so:
"Also, ich bin so gespannt und ich freue mich so doll. Also ich fühle mich fröhlich hier. Ich habe so viele Freunde gefunden hier."
Zum Beispiel Juri. Er spielt genauso wie Emily Geige. Juri macht außerdem noch Kickboxen, Schwimmen und Floorball. Aber Musaik, sagt er, sei für ihn etwas Besonderes.
"Ich finde das sehr schön, dass es kostenlos ist, und dass es keine Grenzen gibt. Und dass wir eine Chance haben, in einem Orchester zu spielen. Wir spielen am Dienstag in einem Theater."

Unglaublich viel gelernt in neun Monaten

Das Abschlusskonzert im Dresdner Societätstheater ist das sechste Konzert von Musaik. Über leere Saiten haben sich die Kinder an die ersten Griffe herangetastet. Dem einen Kind fällt es leichter als dem anderen. Titanic, Kinderlieder, aber auch der Can-Can oder die "Ode an die Freude" stehen auf dem Programm, sagt Leiterin Luise Börner:
"Also, es ist natürlich alles noch ausbaufähig, wir befinden uns im Anfangsstadium. Aber ich bin schon sehr positiv überrascht, was in neun Monaten so geworden ist. Wenn man auch wirklich sieht, dass die Kinder ja wirklich nie Einzelunterricht haben. Die sind immer nur in der Gruppe da, alles passiert zusammen. Und da haben die auf jeden Fall schon unglaublich viel gelernt."
Musikalisch natürlich. Aber auch, eine halbe Stunde lang still zu sitzen, sich auf den Punkt zu konzentrieren. Für die Kinder ist das herausfordernd. Aber gerade in einem Viertel wie Prohlis habe Musaik noch eine ganz andere Bedeutung:
"Ich glaube ein ganz schönes Beispiel ist das Gastmahl, wo wir am Dienstag teilgenommen haben, Dresden is(s)t bunt, wo wirklich von allen Kindern die Familien dabei waren, wir gemeinsam in die Innenstadt gefahren sind, dort ein tolles Konzert gespielt haben und die Kinder da ganz viel Selbstbestätigung erfahren haben. Ganz viel Applaus für eine tolle Leistung, die sie wirklich erbracht haben."
Musaik geht in die Sommerpause. Danach geht es weiter: in größeren Räumen und mit Verstärkung. Im Herbst startet zusätzlich zu den Streichern eine Bläserklasse .
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