Geschönte Dokumentarfilme

Die Legende vom wiederentdeckten Künstler

Selbstporträt der Fotografin Vivian Maier.
Selbstporträt von Vivian Maier © ©Vivian Maier_Maloof Collection
Ein Gespräch mit Jürgen Kalwa · 24.06.2014
Dokumentarfilme wie "Searching for Sugarman" oder "Finding Vivian Maier" erzählen von der Wiederentdeckung verschollener Künstler. Doch die Zuschauer bekommen dabei oft nur die halbe Wahrheit zu sehen.
Schon die Titel sagen, um was es geht: "Searching for Sugarman", "Finding Vivian Maier". Suchen, finden - die programmatischen Ausgangslage für 90 Minuten Dokumentarfilm-Kino, das gerne eine Mischung aus Detektivgeschichte und Märchen präsentiert. Dagegen spricht nichts. Bloß: Manche Geschichten wirken tatsächlich zu gut, um wahr zu sein.
Wer daran zweifelt, muss sich intensiv mit dem Stoff beschäftigen und nachrecherchieren. Und so wird man automatisch zu einer Art Spielverderber, der die vordergründig ja sehr hübschen Filme schlechtredet. Zumal sie doch alles ganz plastisch und plausibel vorführen: mit Interviews, Archivaufnahmen, stimmungsvollen Szenen aller Art, vornehmlich aus Flugzeugen und aus fahrenden Autos, die durch eine attraktive Landschaft gondeln.
Es gibt die Filme, bei denen die Regisseure sich selbst gleich mit inszenieren. Als Erzähler und Hauptpersonen. Und die, bei denen sie von unsichtbarer Hand die Fäden ziehen.
Doch zunehmend fällt gerade an attraktiven Filmen auf, dass sie wohl deshalb so gut geraten, weil sie so einiges weglassen. Dinge, die den schönen, schlanken Erzählstrang stören könnten. Und solche, die das ganze Thema kippen könnten.
"Finding Vivian Maier": Der Film über den ahnungslosen Chicagoer Immobilienmakler, der eines der größten Fotografie-Talente des letzten Jahrhunderts entdeckt, die Bilder bunkert und einen Film darüber macht, der alles erklärt und mystifiziert.
"Searching for Sugarman": Der Film über den erfolglosen Singer/Songwriter in Detroit, der nicht weiß, dass seine Platten in Australien und Südafrika groß verkauft werden. Und der das erst sehr viel später herausfindet, heute seinen späten Ruhm genießt und ständig auf Tournee geht.
Was fehlt bei "Finding Vivan Maier"?
Die Details der Geschichte hinter der Geschichte. Der Entdecker John Maloof inszeniert sich in seinem Film sehr geschickt als der zufällige, aber aufrichtige und ambitionierte Erbe eines künstlerischen Werks und der Biografie einer exaltierten Frau, die Zeit ihres Lebens kein Bild veröffentlicht hat.
Was gar nicht vorkommt: Maloof hat einen Konkurrenten im Kampf um Image und Marktwert. Inzwischen reden wir von 2000 Dollar pro Bild und mehr. Dieser Mann, Jeffrey Goldstein, war pfiffig genug, als er mitbekam, dass an den Bildern etwas dran sein könnte, Maloof auszumanövrieren, ein paar Kisten mit Negativen zu sichern und sich selbst als einer der Sachwalter dieses Kulturschatzes zu inszenieren.
Und genau das ist der Hintergrund dafür, dass es bereits einen anderen Film über die Entdeckung von Vivian Maier gibt, der etwas anders tickt und kritischer ist. "The Vivian Maier Mystery”, der letztes Jahr herauskam, in der Regie der britischen Filmemacherin Jill Nichols. Maloof weigerte sich, zu kooperieren. Was man verstehen kann. Er wollte seinen eigenen Film nicht sabotieren.
Leider wirft nur der Nichols-Film so wichtige Fragen auf wie: Warum wird diese Vivian Maier heute von Leuten zu einem Mysterium verklärt, die im Besitz des gesamten Materials sind? Die Frau, von der wir nun – dank des Films – glauben, dass wir sie kennen, wurde von "Leuten erfunden, die eine gute Story lieben”, sagt Pamela Bannnos, eine Fotografin und Maier-Expertin, die an der Northwestern University außerhalb von Chicago unterrichtet. Erfunden. Nicht Gefunden.
Und das ist noch nicht alles. Der Film lässt auch eine wichtige juristische Frage links liegen: Gehört das Urheberrecht womöglich einem alten Cousin in Frankreich?
Maloof hat mir erzählt, dass er sehr gründlich nach etwaigen Erben gefahndet hat. Vivian Maier hat kein Testament und keine direkten Erben hinterlassen. Nach den Gesetzen des Bundestaates Illinois würden ihre Besitztümer theoretisch auf der mütterlichen Seite einem Cousin in Saint Julien en Champsaur in den französischen Alpen zufallen.
Der Mann taucht auch im Film auf. Aber das Thema wird nicht erörtert. Die Kisten und deren Inhalt, die Negative, gehören selbstverständlich John Maloof. Wie es mit den Urheberrechten bestellt ist, ist eine ganz andere Frage.
Maloof hat das irgendwie umschifft. Er hat in dem kleinen Alpendorf dafür gesorgt, dass es eine Organisation gibt, die die Erinnerungen an Vivian Maier und ihre Beziehungen zum Herkunftsort ihrer Mutter wachhält. Man organisiert Ausstellungen in der kleinen Gemeinde. Maloof schenkt der Gemeinde 50 Bilder (etikettiert als "Originale”), wie die Zeitung vor Ort berichtet. Der Cousin Sylvain Jaussaud, der im Film auftaucht, "der letzte lebende Cousin”, fühlte sich genauso geehrt wie die anderen im Ort. Ob er wusste, wie wertvoll die Bilder sind?
Und was fehlt beim zweiten Beispiel - "Searching for Sugarman"?
Das Märchen von dem ahnungslosen Musiker fällt komplett in sich zusammen, wenn man endlich versteht, dass Rodriguez nicht ahnungslos durchs Leben gelaufen ist, sondern durchaus schon sehr früh wusste, dass man seine Musik außerhalb der USA kannte und schätzte. Das passierte in den 70er-Jahren in Australien. Rodriguez flog hin und hatte Riesenerfolg bei Konzerten. Das lässt der Film einfach weg, zu Gunsten der rührenden Südafrika-Geschichte, die bereits in den 90er- Jahren eigentlich auserzählt war, als Sixto Rodriguez nach Südafrika flog und dort Konzerte gab.
Aber noch wichtiger ist dieser Punkt, an dem der Regisseur fünf gerade sein lässt: "Ich habe nicht versucht, die Tantiemen-Frage aufzuklären. Denn die Geschichte dreht sich wirklich nicht um Geld", sagte Malik Bendjelloul vor zwei Jahren in einem Interview.
Wie bitte? Der Musiker musste auf dem Bau arbeiten gehen, weil er mit seiner Musik nichts verdiente. Und dass er auch noch von Plattenmanagern finanziell hintergangen wurde, wird im Film ziemlich klar.
Das wäre so, als ob einer sagen würde, die Geschichte von Hänsel und Gretel hätte rein gar nichts mit Kannibalismus zu tun, sondern nur mit schlauen Kindern, armen Eltern und einer bösen Hexe.
Der Film klärt natürlich auch nicht, warum der Sänger so zurückhaltend war, als es darum ging, einen Film über ihn zu machen. Eine Vermutung drängt sich erst sehr viel später auf. Rodriguez hatte einst einen gültigen Vertrag mit einem Musikverlag ignoriert, um mit jemand anderem seine Musik aufzunehmen. So sagt es eine Schadenersatzklage, die vor ein paar Monaten in Detroit eingereicht wurde. Nicht nur der Musiker wurde also offensichtlich übervorteilt. Auch ein Musikverlag. Da finge die Kriminalgeschichte an, die der Film aber nicht erzählen will.
Der Film sucht nicht wirklich nach "Sugarman", wie er vorgibt, sondern nach ein paar zuckersüßen Emotionen. Unterlegt mit einer Prämisse. Benjelloul: "Wow, das ist die beste Geschichte, die ich je in meinem Leben gehört habe."
Ist sie natürlich nur, wenn man die Ecken und Kanten begradigt.
In einem Interview mit CNN hat Bendjelloul vor der Oscar-Verleihung zugegeben, dass er bewusst Originalfilmmaterial aus Archiven verfremdet und eigene Szenen auf diese Weise selbst gedreht hat. Stolz erzählte er, dass er dafür eine 1,99 Dollar teure iPhone-App benutzte. "8mm Vintage". Der gewollte Effekt: Es sollte soviel wie möglich nach den 70er-Jahren aussehen. Eine Stimmung sollte erzeugt werden, eine vermeintliche Authentizität.
Die Zuschauer werden im Kino nicht mit der wahren Geschichte konfrontiert, sondern mit einer idealisierten Version
Das Genre ist sehr erfolgreich. Die Kosten, Filme zu machen, sind längst nicht mehr das größte Problem. Das amerikanische Fernsehen bietet einige Plattformen. Auch wenn die meiste Beachtung für Filme abfällt, die ins Kino kommen. Filmemacher wie Michael Moore haben sehr viel für die Popularisierung getan. "Fahrenheit 9/11" zum Beispiel gilt nicht nur als modernes Meisterwerk, sondern hat allein in den USA mehr als 100 Millionen Dollar an der Kinokasse eingespielt.
Aber je mehr das Interesse steigt, desto größer ist das Bedürfnis nach einfachen, geradlinigen Geschichten. Weshalb auch die Cutter schon früh dazustoßen, wie Sabine Krayenbühl erzählt. Die Schweizerin lebt in New York und ist verantwortlich für die fertige Fassung von "My Architect”, der 2003 für einen Oscar nominiert wurde. Ich habe sie vor ein paar Monaten bei einem Interview nach dem Arbeitsstil der heutigen Dokumentarfilmer gefragt.
"Das war wahrscheinlich der erste Film, den wir während des Schnitts gebildet haben – Szene für Szene. Gedreht, geschnitten. Es fing nicht an mit einem Schrotthaufen. Heute ist es im Dokumentarfilm oft so, dass der Cutter schon frühzeitig dazukommt. Bevor sie jetzt losgehen und drehen wie wild."
Sabine Krayenbühl unterstreicht also, wie konsequent heutzutage Stoffe für Dokumentarfilme in Angriff genommen werden. Bereits mit einem Blick für das fertige Produkt.
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