Dreigroschenoper in der Augsburger Puppenkiste

Von Agnes Hüfner · 14.08.2006
Augsburg hat tatsächlich viel zu bieten, darunter das Brecht-Haus, eine reich bestückte Gedenkstätte und eine Brecht-Bibliothek, die nach dem Brecht-Archiv in Berlin zweitgrößte Sammlung der Welt ist. T-Shirts mit Brechts Konterfei, Brecht-Zigarren und die Brecht-Wurst sind inoffizieller, privater Initiative zu danken. Die Stadt feiert ihren Sohn. Das war nicht immer so.
"Es ist für Augsburg ein Glücksfall, dass Bert Brecht hier in dieser schönen Stadt geboren ist. Immer wenn’s eben geht, mach ich zum Schluss irgendwas von Bert Brecht, also bei den allgemeinen Führungen. Und sonst, bei den Sonderführungen, da ist der Perlachturm, der Goldene Saal, Augsburger Kreidekreis, dann natürlich die Barfüßerkirche, das ist immer gut, weil man da sitzen kann, und da kann man eben viele Gedichte zitieren, und dann natürlich das Geburtshaus mit der Gedenkstätte, und da mach ich dann immer den Vorschlag, dass man das nach der Führung persönlich anschaut."

Xaver Deniffel ist einer von über 120 Stadtführer der Augsburger Tourismus GmbH, einer von denen, die, wie es offiziell im Prospekt heißt, "auf den Wegen des Dichters durch die Stadt führen", die wichtigsten Stationen der Jugendjahre Brechts erläutern und sie mit "vielen Original-Zitaten" ausschmücken. Also holt Xaver Deniffel an Ort und Stelle Karteikarten, Zettel, Broschüren aus dem Rucksack und zitiert Brecht-Gedichte, Passagen aus der Prosa. In der Barfüßerkirche, in der Brecht getauft wurde, liest er eine Erinnerung des Autors an seine Mutter und die lange "Legende vom toten Soldaten", ein böses Poem über die Kriegsbegeisterung des Jahres 1914, die auch die Augsburger erfasst hatte.

Brecht-Führungen werden im Schnitt zweimal im Monat gebucht. Mehr sind es in diesem Sommer auch nicht. Kein Vergleich mit der Nachfrage nach Fugger, Welser, Mozart. Vater Leopold Mozart wurde hier geboren. Er wohnte nur drei Jahre in dem Haus, das einem gezeigt wird. Augsburg und Brecht, Brecht und Augsburg, eine Randerscheinung? Bibliotheksdirektor Helmut Gier sieht das so:

"Das ist ein interessantes Thema, das aus meiner Sicht lange Zeit in der Forschung auch etwas verquer dargestellt wurde. Das beginnt schon mit der Vorstellung, die sich Berliner oder Amerikaner von Augsburg machen. Viele Brecht-Biografien beginnen ja mit einer Kurzbesprechung dieser Stadt, die jetzt für den Augsburger dann häufig gar nicht wiederzuerkennen ist. Brecht war ja im Grunde sehr viel länger und enger mit Augsburg verbunden als zum Beispiel Thomas Mann mit Lübeck. Er hat keinen Augsburg-Roman geschrieben, aber Augsburg war die Heimat, in der alle wichtigen ersten Erlebnisse sich abgespielt haben."

1960 stellten junge Leute, Linke, heißt es, ein Schild an die Autobahnausfahrt: "Sie betreten Augsburg, eine Stadt, die ihre großen Söhne totschweigt". Das Schild stand nicht lange dort. Es dauerte ein paar Minuten, dann kam die Polizei. Länger, ein Vierteljahrhundert lang, hielt sich eine Gedenktafel am Geburtshaus des Dichters, eine private Initiative, angeregt von Künstlern, Kriegsdienstgegnern, Gewerkschaftern, einem Augsburger Buchhändler, die Angaben schwanken. Die Gedenktafel gibt es heute noch, allerdings nicht mehr am selben Platz. Als die Stadt 1985 das Brechthaus für sich entdeckte, es kaufte, eine eigene Gedenktafel aufhing und mit ihrem Namen versah, musste die alte Tafel ins Innere des Hauses umziehen.

Zu den Einzelkämpfern für Brecht schlug sich früh auch die Junge Union. Erich Maiberger, damals der Vorsitzende, heute pensionierter Studienrat, einer der besten, wenn nicht der Kenner der Biografie Augsburgs und seines Dichters – entwarf ein Flugblatt, ging damit an die Öffentlichkeit, organisierte eine Diskussion über den Text. Er liest daraus vor:

"Wir empfehlen alles, was der Beschäftigung mit Bert Brecht und seinem Werk und der kritischen Auseinandersetzung damit dient. Wir lehnen alles ab, was einer Ehrung und einem Bekenntnis zu ihm gleichkommt." Der Oberbürgermeister hat dieses Flugblatt benutzt und hat einen Antrag im Stadtrat gestellt nach Benennung der Frühlingsstraße nach Brecht, und hat darauf hingewiesen, dass sogar die Junge Union dieses empfohlen hatte, hat die CSU nicht zum Nachgeben gebracht."

Mit dem Flugblatt endete Maibergers politische Karriere. Er trat aus der Partei aus und machte weiter mit Brecht, hielt, in Pfarrgemeinden, Volkshochschulen, CSU-Ortsvereinen, an der Universität, Vorträge über Brecht und rezitierte aus dessen Werk, ein hartnäckiger Liebhaber. Außer der Warnung vor Ehrung und Bekenntnis zu Brecht enthielt das Flugblatt konkrete Vorschläge, darunter die Straßenbenennung. Wenige Jahre, nachdem das Flugblatt Furore gemacht hatte, entschied sich der Stadtrat. Die Frühlingsstraße, in der Brecht zwanzig Jahre gelebt hatte, wurde zur Brecht-Straße.

Die Zusammensetzung des Stadtrats, erklärt Erich Maiberger, hatte sich geändert. Verändert hatte sich auch das Verständnis für Brecht. Ludwig Kotter, damals Kulturreferent der Stadt:

"Ich kann von meiner politischen Grundeinstellung her, das, was politisch Brecht gemacht hat, nicht übernehmen. Trotzdem kann ich eben sagen, ich war von Brechts Stücken begeistert, wenn auch nicht vom Inhalt in jedem Fall. Und im Übrigen, sehen Sie, wenn ich den 'Kreidekreis' anschaue, was wahrscheinlich sein größtes Stück ist, oder den Sezuan, wo merken Sie jetzt da, wo merken Sie da Kommunismus?"

Vergleichbar stur wie Erich Maiberger, unbeirrt vom Fehlen jeglicher Gegenliebe, unterliefen die Augsburger Kommunisten die offizielle Missachtung Brechts. Kurt Idrizovic, in den 60ern noch Lehrling, heute Inhaber des "Brecht-Shops", einer Buchhandlung, in der alles, oder fast alles von und über Brecht zu bekommen ist, außerdem Herausgeber der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift "dreigroschenheft", erinnert sich:

"Es gab eine große Tradition der DKP, der hiesigen DKP, an Brechts Geburtstag das Rathaus zu besuchen, und die große Tradition spiegelte sich darin, dass das Rathaus immer verboten wurde für DKP-Veranstaltungen. Die DKP war damals mit ein Verwalter der Brechtschen Tradition, und so war der Brecht wenigstens negativ Gespräch. Ansonsten war er eigentlich gar nicht da, er war ja nit vorhanden.

Und die DKP hat wenigstens am Geburtstag oder am Todestag den Brecht immer wieder ins Gespräch gebracht, eben den politischen Brecht, und das war eigentlich sehr verdienstvoll. Die Stadt konnte sich immer wieder, nicht durch Brecht-Ablehnung, sondern durch Saal-Ablehnung, immer wieder politisch äußern, ohne sich politisch zu äußern. Auch nicht schlecht. So gesehen, hat jeder was gehabt."

Die bekannteste Affäre zwischen Stadt und DKP ereignete sich in den späten 70er Jahren. Franz Xaver Kroetz, von der Partei, deren Mitglied er damals war, eingeladen, im Rathaus über Brecht zu sprechen, musste in andere Räumlichkeiten ausweichen. Knapp zwanzig Jahre danach kam Kroetz dann doch in den Goldenen Saal, den Prachtsaal des Rathauses, um als Erster den neugeschaffenen Brecht-Preis der Stadt Augsburg entgegenzunehmen. Augsburg war mit sich im Reinen. Das Glockenspiel des Perlachturms, einer der Sehenswürdigkeiten des Orts, intonierte den "Mackie-Messer"-Song, eine vorübergehende Programmänderung. Normalerweise erklingt Mozartmusik. Nach der frühen Affäre gefragt, antwortete Kroetz:

"Ich hatte das längst vergessen. Ich bin nicht nachtragend, und das ist 20 Jahre her. Ich kann mich da nicht erinnern. Ich hab dann aus dem Archiv der Zeitung gesehen, was da war, und dann erinnerte ich mich. Ja, die Stadt hat nichts gemacht. Wir haben als Partei, ich meine, dafür sind wir ja auch da, machen die heute nicht anders, die Lücke entdeckt, und haben daraus natürlich Kapital geschlagen. Ich glaube, ich hab einen ganz vernünftigen Vortrag gehalten, aber, wie gesagt, ich finde ihn nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, wo er ist. Und ich sehe das eher als eine Sache, mit der Augsburg zurecht kommen muss, aber nicht ich."

Der Eindruck, der Augsburger Unfriede habe ausschließlich die Jugend gegen das Establishment und die Linke gegen die Parteien im Stadtrat aufgebracht, täuscht. Seit 1950, als die Städtischen Bühnen "Mutter Courage" inszenierten, spielte das Theater regelmäßig Brechtstücke, was, von Fall zu Fall, zu Eingaben der Abonnentenorganisation Theatergemeinde führte.

Und als kurz nach dem Bau der Mauer, 60 Intendanten westdeutscher Häuser öffentlich gegen einen Boykottaufruf protestierten, war auch Karl Bauer, Generalintendant in Augsburg dabei. Regelmäßig befasste sich auch die "Schwäbische Zeitung", der Vorläufer der heutigen "Augsburger Allgemeinen", mit Brecht. "Ein sehr wohlwollender "Redakteur", kommentiert Erich Maiberger.

Das Marionettentheater, die Augsburger Puppenkiste stellte für einen Rezitationsabend mit Therese Giehse und Peter Lühr, Räume zur Verfügung und führte selbst zweimal Brecht auf, 1960 die "Dreigroschenoper", 1968 "Das Verhör des Lukullus". Hören Sie einen Ausschnitt aus dem ersten Akt der "Dreigroschenoper". Die Rolle des Jonathan Jeremiah Peachum, genannt "Bettlers Freund", übernahm Walter Oehmichen, der Gründer und Leiter der Puppenkiste:

Peachum zum Publikum: "Es muss etwas Neues geschehen. Mein Geschäft ist es, das menschliche Mitleid zu erwecken. Es gibt einige wenige Dinge, die den Menschen erschüttern, einige wenige, aber das Schlimme ist, dass sie, mehrmals angewendet, schon nicht mehr wirken. Denn der Mensch hat die furchtbare Fähigkeit, sich gleichsam nach Belieben gefühllos zu machen."

So schwer sich das offizielle Augsburg auch tat, den illegitimen Sohn offiziell anzuerkennen, es geschah, mal aus Versehen, mal aus vollem Bewusstsein. Mal hing ein städtischer Brecht-Geburtstagskranz am falschen Haus, mal, bereits 1963, beschloss der Rat, Sondermittel für eine Brecht-Sammlung, in der Staats- und Stadtbibliothek locker zu machen. Üppig kann die Gabe zunächst nicht gewesen sein: Anfangs passte die Sammlung in einen Schrank. Bibliotheksdirektor Helmut Gier:

"Das größte Versäumnis war vielleicht, um mal eines zu nennen, dass man sich nicht sehr viel intensiver bemüht hat, mit Walter Brecht, dem Bruder, sich ins Benehmen zu setzen, damit man die Materialien, die im Besitz des Bruders waren, nach Augsburg hätte holen können. Zum Beispiel ist es aus Augsburger Sicht doch sehr bedauerlich, dass etwa die ganzen Zeugnisse Brechts vom Realgymnasium hier, heute in Berlin sind, weil der Bruder eben doch der Meinung war, in Augsburg passiert da nicht so furchtbar viel, und dann gibt er das eine oder andere doch eher nach Berlin."

In aufsteigender Linie erfolgte die Heimholung Brechts nicht. Jederzeit, bis in die 80er Jahre, gab es Einbrüche, jederzeit Ausweichmanöver. Auf die Frage, warum, das Realgymnasium, Brechts Schule in Augsburg nach dem Humanisten Konrad Peutinger und nicht nach Brecht benannt wurde, man musste sich erst mal kundig machen, erinnert sich Erich Maiberger, wer Peutinger war, antwortete Kulturreferent Ludwig Kotter:

"Wissen Sie, eine gewisse Gelassenheit ist ja auch in einer zweitausendjährigen Stadt am Platz."

Auf die Frage, warum Brecht in der Stadt so unbeliebt sei, antwortete ein Passant:

"Der hat ja von uns, den Augsburgern, nichts wissen wollen, der Brecht."

Den zweiten Teil der Antwort haben Dialekt und Straßenlärm fast unverständlich werden lassen. Weil Brecht von Augsburg nichts habe wissen wollen, so der Passant, sei er in die DDR gegangen. Wie bewusstlos, über die eigene und die deutsche NS-Geschichte hinweghuschend, das gesunde Volksempfinden hier sich äußerte, und wie es dazu kam, darauf ging der Germanist Hans Mayer ein, als er 1966 in Augsburg über Brecht sprach. Zu Beginn seiner Rede zitierte Mayer Brechts Gedicht "Die Rückkehr", geschrieben noch in der amerikanischen Emigration. Zwei Fragen stellt der Autor in dem Gedicht: "Die Vaterstadt, wie find’ ich sie doch? Und: "Die Vaterstadt, wie empfängt sie mich wohl?"

Hans Mayer: "Rückkehr nach Deutschland bedeutete für ihn Rückkehr nach Augsburg, Rückkehr in die Vaterstadt, die Rückkehr in eine Zerstörung, in eine Feuersbrunst, die er mitgewollt, mit veranlasst hatte, für die er sich verantwortlich fühlte, die er auch billigte als eine Maßnahme, weil sie, wie ihm schien, die einzige Voraussetzung der Rückkehr überhaupt sein konnte."

Die Brechtsammlung der Bibliothek ist heute die nach Berlin weltweit größte Sammlung. Die Brecht-Forschungsstätte Augsburg international angesehen. Ihr Leiter, Jürgen Hillesheim, holte in diesen Tagen Brechtforscher aus aller Welt zu einem Symposium über "Brecht und der Tod" nach Augsburg.

Jürgen Hillesheim: "Es gibt nach wie vor den Taxifahrer, wenn Sie am Bahnhof einsteigen, weiß der immer noch nicht, wo das Brecht-Haus ist, oder er macht ein komisches Gesicht, wenn er dahin fahren muss. Also das gibt’s gewiss nach wie vor.

Andererseits eben auch, und da haben wir einen Beitrag dazu geleistet: Wir haben ihn entideologisiert. Wir haben Brecht in dem nach außen tragen wollen, als was er sich heimlich doch verstehen wollte, immer wollte: als Klassiker. Auch die ersten Suhrkamp-Ausgaben hat man nach seiner Anweisung gemacht. Die sehen aus wie Klassiker-Ausgaben. Er wird auch hier immer mehr als Klassiker wahrgenommen, weniger als Exponent der DDR. Und insofern kann man sich auch mehr auf ihn einlassen und ist jetzt irgendwie stolz, dass man ihn hier hat."

Albert Ostermeier, der parallel zur Tagung der Wissenschaftler das ABC= Augsburg-Brecht-Connected-Festival organisierte und dirigierte, ein großes Spektakel mit Liveauftritten von Autoren und Musikern, setzte aufs Gegenteil: eine neue Sicht auf Brecht hatte er sich gewünscht und die geladenen Gäste angeregt, sich in ihrer Arbeit, dichtend oder musikalisch, mit Brecht zu auseinanderzusetzen. So gut wie jeder, resümiert Albert Ostermeier, die Autoren ebenso wie die Musiker, sind der Anregung gefolgt. Im nächsten Jahr soll es weitergehen, mit der Prosa Brechts und der Prosa der Heutigen.

Gerettet hat Augsburg, um es verkürzt zu sagen, das Ende der DDR, die Biologie und der Verkehrsverein. Viele der alten Brechtfeinde leben nicht mehr, die Imagepfleger haben ein Wort mitzureden.

Kurt Idrizovic: "Und dann hat sich natürlich der drohende 100. Geburtstag 1998, bahnte sich ja schon Jahre vorher an, und man wusste genau: Berlin wird was machen, Brecht wird im Gespräch sein, weltweit im Gespräch sein. Und da lag es für die Stadt Augsburg schon aus Werbegründen nahe, sich da ein bissel aufzustellen. Weil man wollte sich ja auch nicht blamieren."

Edmund Stoiber, 1998 in Augsburg:

"...bayrischer Beitrag zur Literatur."

Kurt Idrizovic: "Und so kann man sagen, bis zu einem bestimmten Punkt war dann '98 so ein Einschnitt, nachdem auf wundersame Weise der Ministerpräsident Stoiber eine spektakuläre Rede gehalten hat und Brecht wieder ins Bayernland geholt hat. Da waren wir eigentlich alle unheimlich froh."

Zum Schluss noch einmal Stadtführer Xaver Deniffel:

"Es ist für Augsburg ein Glücksfall, dass Bert Brecht in dieser schönen Stadt geboren ist, und es gibt einen wunderschönen Text von Feuchtwanger, ich zitiere: "Der ungeduldige Dichter Bertolt Brecht schrieb die ersten Gedichte und die ersten Stücke des 3. Jahrtausends. Aber wenn die Heutigen seine Bedeutung ahnen, die ganze Fülle seines Werkes werden erst die Späteren erkennen.'"


Augsburg hat tatsächlich viel zu bieten, darunter das Brecht-Haus, eine reich bestückte Gedenkstätte und eine Brecht-Bibliothek, die nach dem Brecht-Archiv in Berlin zweitgrößte Sammlung der Welt ist. T-Shirts mit Brechts Konterfei, Brecht-Zigarren und die Brecht-Wurst sind inoffizieller, privater Initiative zu danken. Die Stadt feiert ihren Sohn. Das war nicht immer so.