Drei literarische Vaterporträts

"Die Sagen seines Lebens, über deren Wahrheit ich nichts weiß"

29:41 Minuten
Ein historisches Foto (Häftlinge bei der Arbeit) in der Ausstellung im Gulag Perm 36. Das Arbeitslager am Dorf Kucino befindet sich ca. 90 Kilometer östlich der Stadt Perm im Ural.
Ein russischer Zwangsarbeiter, ein "volksdeutscher" Slowene und ein deutsch-jüdischer Künstler: drei Väter, die auf unterschiedliche Weise mit dem Nationalsozialismus in Kontakt kamen. © imago / Hohlfeld
Von Sabine Voss · 08.05.2020
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Der Holocaust ist in Deutschland Familiengeschichte für die Täter und ebenso für die Verfolgten und die Opfer. Drei Autorinnen legen mit ihren Väterbiografien Zeugnis davon ab. Aus drei Perspektiven entsteht so eine deutsche Gewaltgeschichte.
"Mir ist nichts erzählt worden, bis ich Ende zwanzig war. Aber meine Behauptung ist, dass das Nicht-Erzählte mich tief beeinflusst hat, mein ganzes Leben, lange, bevor ich es wusste," sagt Wencke Mühleisen, deren Vater 1916 in Slowenien geboren wurde. "Und diese retrospektive Erinnerung an etwas, was gar nicht passiert ist, aber doch war, das ist eine schwere Arbeit. Aber irgendwo sehr notwendig, es fühlt sich sehr notwendig an."
Natascha Wodins Vater kam im Jahr 1900 in Russland zur Welt: "Die Opfer haben nicht gesprochen und die Täter haben natürlich sowieso nicht gesprochen, woher sollte ich's wissen! Ich hatte ja keinerlei Bericht darüber, ich konnte auf nichts zurückgreifen."
Und Barbara Honigmanns Vater, geboren 1903, stammt aus Darmstadt: "Es gab keine Juden, die nach der Schoah irgendwo auf der Welt gelebt haben, ohne sich bewusst zu sein, dass sie Juden sind. So was gab‘s überhaupt nicht, so was konnte es auch nicht geben!"

Drei Väter, drei Schicksale

Drei Autorinnen erzählen die Geschichten ihrer Väter, die von Lothar, Nikolaj und Georg. Gemeinsam ist ihnen, dass der Zweite Weltkrieg der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens war. Und dass sie so manche Wahrheiten über sich mit ins Grab genommen haben.
"Naja, jeder hat auch das Recht, nicht alles mit allen teilen zu wollen und auch nicht unbedingt mit seiner Tochter", sagt Barbara Honigmann. "Deswegen bestehe ich auch immer wieder darauf – weil, bei Lesungen werde ich auch immer viel gefragt – nein, das ist nicht das Buch 'Alles über meinen Vater', das ist mein Porträt meines Vaters, nicht mehr und nicht weniger."
Barbara Honigmann lebt seit mehr als 30 Jahren in Straßburg. Sie entstammt väterlicherseits einer Bankiers- und Ärztedynastie aus Darmstadt, wo die jüdischen Bankiers ihre Töchter gerne mit jüdischen Hofärzten des Herzogs verheirateten.
Die Schriftstellerin Barbara Honigmann.
Die Schriftstellerin Barbara Honigmann.© picture alliance/Violetta Heise/dpa
Die nächste Generation wollte das klassische Judentum dann oft hinter sich lassen, um sich selbst ganz frei erfinden zu können.
"Georg" heißt schlicht das Buch über ihren Vater. Er besuchte die renommierte Odenwaldschule, wählte nach dem Studium ein ungebundenes Leben als Journalist, ging zuerst nach Paris und schließlich als Korrespondent der Vossischen Zeitung nach London. Er war ein schillernd bohèmehafter, sich nicht festlegender Charakter, der nach Ansicht seiner konservativen Verwandtschaft aus der großbürgerlichen Art schlug.
"Das hat ja nur zwei Generationen gedauert, praktisch. Die Juden haben sich da großen Illusionen hingegeben, dass sie gleichgestellt sind. Sind mit großer Euphorie in die deutsche Kultur sozusagen hinein, mit fliegenden Fahnen, und dann hat sich das alles bald in nichts aufgelöst."
Aufgrund der nationalsozialistischen Pressegesetze muss die Vossische Zeitung 1933 schließen, der Ullstein-Verlag wird "arisiert". Die Ullstein-Brüder retten ihr Leben durch Emigration. Und London wird, wie vielen anderen Juden auch, für Georg zum Exil.

Menschen geben das weiter, was sie erlebt haben

"Wissen Sie," sagt Natascha Wodin, "ich habe immer die Juden beneidet, seltsamerweise, die hatten ein Schicksal. Mir ging es so, dass ich irgendwo auch außerhalb war, anders war, ich wusste aber nie, warum, und ich hatte kein Schicksal. Und mir ist dadurch, dass ich erfahren habe, wer meine Eltern waren, irgendwie auch ein Schicksal zugewachsen, eine Begründung dafür, warum mir das Leben manchmal so schwer und tragisch vorkam."
Als die Amerikaner im Mai 1945 die Zwangsarbeiterlager in Leipzig befreien, ist Natascha Wodins Mutter im dritten Monat schwanger. Den Zwangsarbeiterinnen bei Flick waren ihre neugeborenen Kinder sofort nach der Entbindung weggenommen worden.
"Hätten meine Eltern mich ein halbes Jahr früher gezeugt," schreibt Natascha Wodin, hätte man mich, ihr erstes gemeinsames Kind, wahrscheinlich ebenfalls in einen Aufzuchtraum für Bastarde gebracht."
Dort verhungerten sie zumeist, starben an Krankheiten und mangelnder Hygiene. Nach der Befreiung hatten über Nacht Millionen von Zwangsarbeitern kein Obdach mehr.
"Wenn ich mal heute noch Freunde frage, na, was glaubst du, wie viele Lager es in Deutschland gegeben hat, dann sagen sie immer, na, vielleicht zehn, na, vielleicht zweihundert. Es waren 45.000. Das muss man sich mal optisch vorstellen, was das für ein Land war. An jeder Ecke war ein Zwangsarbeiterlager. Ich weiß, dass in Leipzig, wo meine Eltern waren, allein 200 waren. Also eine Stadt mit 200 Lagern, das ist ja eigentlich ein einziger Gulag."
Die Gewinnerin des Preises der Leipziger Buchmesse 2017, Natascha Wodin, hält einen Blumenstrauß in der Hand
Die Schriftstellerin Natascha Wodin bei der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse 2017. Ausgezeichnet wurde sie für ihr Buch "Sie kam aus Mariupol".© imago images / STAR-MEDIA
Auf der Konferenz von Jalta wird die Zwangsrepatriierung aller Sowjetbürger beschlossen. In der Sowjetunion jedoch droht den Rückkehrern wegen Verdachts aktiver Kollaboration mit dem Kriegsfeind der Tod. Nur ein Häuflein Zersprengter schafft es, in Deutschland zu bleiben. Natascha Wodins Eltern gelangen irgendwie bis nach Nürnberg, ein unverschlossener Schuppen in den Trümmern der Stadt wird ihre erste Heimstatt.
Ihr Vater wuchs in Kamyschin, nördlich von Wolgograd, auf. Hier wird seine wunderschöne helle Stimme entdeckt und gefördert, hier singt er im Kirchenchor.
Noch im zaristischen Russland geboren, war Nikolaj siebzehn, als die Revolution ausbrach. Wie und wo überlebte er den Bürgerkrieg, den Stalin-Terror, die Säuberungen, den bestialischen Hunger? Und wie den Angriffskrieg der Nazis und seine Deportation? Wie und warum wurde er zu diesem Vater, der er war?
"Das bin ich meinem Vater trotz allem schuldig, dass ich frage: Warum? Deswegen habe ich das Buch geschrieben. Es gibt nicht wirklich Antwort, finde ich. Es zeigt einfach, dass die Menschen weitergeben, was sie erlebt haben. Und mein Vater hat, glaube ich, nur Gewalt erlebt."

Es begann mit einer Lüge

Wencke Mühleisen wuchs in Österreich, Deutschland, der Schweiz und in Norwegen, dem Heimatland ihrer Mutter, auf und hat das Buch über ihren Vater auf Norwegisch geschrieben, denn sie lebt schon lange in Oslo.
"Das ist auch so eine Geschichte, die erst jetzt richtig erarbeitet wird: Das Schicksal der Kinder von den sogenannten 'Deutschenhuren', das heißt, die Frauen, die Liebesbeziehungen mit den Deutschen hatten. Und die nicht erzählte Geschichte meiner Mutter ist ja so eine Geschichte."
Bereits am Beginn, als ihre Eltern sich nach dem Krieg in Norwegen begegneten, stand eine Lüge.
"Mein Vater hat sich als Jugoslawe vorgestellt. Und Jugoslawen hatten in der norwegischen Bevölkerung große Sympathie, weil, das waren Zwangsarbeiter, die haben die norwegische Nordeisenbahn gebaut im Krieg."
Wahr daran ist, dass er zwar aus Slowenien stammte, seine Familie dort aber zur deutschsprachigen Minderheit gehörte. Den Kindern wurde diesese Geschichte nie erzählt. In Norwegen galt er später als Österreicher. Doch das ist er erst nach dem Krieg geworden, als die Deutschen in Slowenien die Rache der neuen Regierung unter Tito traf, die Mühleisen-Familie flüchten musste und Aufnahme in Österreich fand.
In Slowenien war der Großvater politischer Wortführer für die "volksdeutsche" Minderheit in Maribor, die nach dem Ersten Weltkrieg um ihre Identität und Privilegien fürchten musste und sich zu radikalisieren begann. Sein Sohn trat in die Fußstapfen seines Vaters, wirkte daran mit, der deutschen Besatzung den Boden zu bereiten, war an einer Deportationskommission zur Verschleppung slowenischer Einwohner beteiligt und meldete sich schließlich als Kriegsfreiwilliger zur Wehrmacht.
Derweil muss Nikolaj Wodin erfahren, was es heißt, "Ostarbeiter" in der NS-Rüstungsindustrie zu sein. Und in London, im Kreis der Exilanten, darunter viele Juden, erlebt Georg Honigmann seine Politisierung und verwandelt sich in einen Kommunisten – wie der britische Geheimdienst beobachtet und dokumentiert.
Wieso hat Georg sich vom russischen KGB rekrutieren lassen und ein Land hintergangen, das ihm Asyl gewährt hatte, fragt sich seine Tochter viel später, als ihr das MI5-Dossier eher zufällig unter die Augen kommt.
"Die müssen einerseits sehr stark motiviert gewesen sein, da ein neues Deutschland zu erfinden, und andererseits hatten sie sich in ihre kommunistischen Vorstellungen hineingesteigert, der Kommunismus ist eben internationalistisch und universalistisch, und irgendwie war ihnen nicht klar, dass das alles bloß Lack war."

Eine Gesellschaft im Koma

Natascha Wodin beschreibt die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit als eine Gesellschaft im Koma. Die Heranwachsende spürt ein zähes doppeltes Schweigen: Die Deutschen schweigen über etwas anderes als die "heimatlosen Ausländer", wie die ehemaligen Zwangsarbeiter jetzt offiziell heißen. Diese wohnten in primitiven, eigens für sie erbauten Nachkriegsblocks außerhalb der Stadt.
Wer zum Bodensatz der Gesellschaft gehört, schweigt vor allem aus Scham, sagt Natascha Wodin.
Sie ist zehn Jahre alt, als sich ihre Mutter im Oktober 1956 in der Regnitz ertränkt. Währenddessen tourt ihr Vater als Sänger im russischen Don-Kosaken-Chor durch Europa und verdient den Familienunterhalt. Der spätere Verlust seiner Singstimme ist die eine große Tragödie seines Nachkriegslebens in Deutschland – danach fährt er jeden Tag auf einem klapprigen Fahrrad in die Fabrik –, die andere ist, dass er im Alter auch noch sein Augenlicht verliert.
Georg dagegen ist den Kommunisten in der DDR zu bürgerlich, zu westlich, zu sehr mit verdorbenen Ideen in Berührung gekommen, zu kosmopolitisch und – zu jüdisch, denn um das Jüdische weht ein Geruch des Kapitalismus. Georg wird sein Leitmotiv, zwischen allen Stühlen zu sitzen, Zeit seines Lebens nicht los.
Kurz nach seinem 81. Geburtstag starb er. Lothar Mühleisen wurde 80 Jahre alt. Bis zuletzt hielt er an seinem Weltbild fest, blieb sich treu, wählte – als norwegischer Staatsbürger – die rechtspopulistische "Fortschrittspartei". Nikolaj Wodin aber, der als Zwangsarbeiter nach Deutschland kam, hatte ein quälend langes Ende in einem deutschen Altenheim.
"Er hätte, glaube ich, ein ganz anderes Alter gehabt, wenn er mit seinen Töchtern gesprochen hätte, wenn er auch mit anderen gesprochen hätte."

Sprecherinnen: Eva Meckbach und Cristin König
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Alexander Brennecke
Redaktion: Dorothea Westphal

Literatur:
- Natascha Wodin: "Irgendwo in diesem Dunkel", Rowohlt Verlag 2018, 240 S., 20 €
- Barbara Honigmann: "Georg", Hanser Verlag 2019, 160 S., 18 €
- Wencke Mühleisen: "Du lebst ja auch für Deine Überzeugung", Zsolnay Verlag 2020, 288 S., 23 €

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