Drei Hinterbliebene auf der Flucht vor dem Leben

16.11.2012
Mit "Superhero", der Geschichte eines an Krebs sterbenden Vierzehnjährigen, hat der Neuseeländer Anthony McCarten einen Welterfolg gelandet. Sein neues Buch knüpft nun an den Vorgänger an und erzählt von den Hinterbliebenen. Ein rasanter Thriller auf hohem Niveau.
Mit "Superhero", der Geschichte eines an Krebs sterbenden Vierzehnjährigen, hat der Neuseeländer Anthony McCarten einen Welterfolg gelandet, der als "Am Ende eines viel zu kurzen Tages" auch verfilmt wurde. McCarten ist versierter Theater- und Drehbuchautor. Entsprechend haben seine Bücher Zug, der Leser kann sich auf wohl kalkulierte Spannung, sprühende Dialoge und klar gezeichnete Figuren verlassen. Das gilt auch für "Ganz normale Helden", im Original: "In the Absence of Heroes".

Titel und Story knüpfen an den Vorgängererfolg an: Erzählt wird von der Mutter, dem Vater und dem Bruder des toten Superhero Donald Delpe - drei Hinterbliebene, die mit dem Verlust, den sie teilen, und der Trauer, die sie einsam macht, nicht zurande kommen. Aus dieser Konstellation entwickelt McCarten einen rasanten Thriller entlang einer psychologischen Versuchsanordnung, die das Ineinandergreifen von virtuellem und realem Leben im digitalen Zeitalter auslotet.

Auf der Flucht vor dem Leben landen alle Delpes im Internet. Die Mutter chattet mit einem ominösen Gegenüber namens GOTT. Sohn Jeff verschwindet aus dem realen Leben in das Online-Spiel Life of Lore, eine virtuelle Welt, in der man auch reales Geld verdienen kann. Er verschwindet auch von zu Hause; seine Eltern wissen nicht, wo er ist. Der verzweifelte Vater Jim Delpe macht sich im Netz auf die Suche nach dem verlorenen Sohn. Er loggt sich ein in Life of Lore – und ist im Handumdrehen an das aufregende Spiel verloren. Dessen unendliches Potenzial an Abenteuern und Geschichten, die man selbst provozieren, beeinflussen oder auch beenden kann, ist so aufregend in Literatur übersetzt, dass man sich streckenweise selbst dem Sog ausgesetzt sieht, der Vater Delpe von Level zu Level treibt.

Tatsächlich trifft Jims Alter Ego auf das von Jeff. Doch das Suchtpotenzial des Spiels, online wie offline, und die Fliehkräfte der handelnden Personen, bald ein kaum noch zu entwirrendes Netz aus gestohlenen Identitäten, erfundenen Figuren, verheimlichten Aktionen, unerfüllten Wünschen, wahren Bedürfnissen und falschen Behauptungen entwickeln eine Eigendynamik, die der versierte Bestsellerautor McCarten zu allerlei überraschenden Wendungen und schließlich zum Showdown treibt. Dabei will er, das ist die eigentliche Überraschung, seine Figuren retten, ihnen unbedingt einen Neustart gönnen. Die Kapitel sind "Das Ende", "Die Mitte", "Der Anfang" überschrieben - in dieser Reihenfolge.

Um im Bild zu bleiben: Jedes Kapitel bringt auch den Leser auf ein neues Level. Je mehr wir erfahren, je mehr Geheimnisse tatsächlich oder vermeintlich gelüftet werden, desto komplexer werden die Situationen, denen McCarten seine Figuren und seine Leser aussetzt. Dem grandiosen Spiel mit Erwartungen, das die Exposition zelebriert, halten vielleicht nicht alle Auflösungen stand. Was aber bis zur letzten Seite auf höchstem Level erhalten bleibt, ist die Spannung. Zutiefst gefühlte Menschlichkeit, ein brandaktuelles Thema und Thrillerqualität auf hohem Niveau – das macht McCarten so schnell keiner nach.

Besprochen von Hans von Trotha

Anthony McCarten: Ganz normale Helden
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Zürich Diogenes 2012
464 Seiten, 22,90 Euro