Drei Handtaschen sind nicht das Glück

Von Stefan Keim · 16.05.2008
An eine der größten Liebesgeschichten der Weltliteratur hat sich Regisseur Jan Bosse herangetraut: Mit kurzen, pointierten Dialogen und ausgezeichneten Schauspielern hat er für die Ruhrfestspiele in Marl "Anna Karenina" von Leo Tolstoi in Szene gesetzt. Etwas mehr Mut zur Stille hätte der Aufführung allerdings gut getan.
Eine Wand aus Kästen und Kästchen. Darin sitzen, stehen, kriechen Menschen. Und einer kracht durch die Decke, Milan Peschel als Graf Wronski. Mit Krawumm bricht er ein ins Leben von Anna Karenina. Sofort ist klar, dass die beiden füreinander Schicksal sind.

Seit vielen Jahren adaptieren Theatermacher Romane, aber an die großen Russen hat sich lange nur Frank Castorf getraut. Nun sind die Tausend-Seiten-Wälzer auf dem Weg ins Repertoire. In Wien hat Nicolas Stemann mit beachtlichem Erfolg die "Brüder Karamasow" dramatisiert, jetzt verarbeiten Armin Petras (Text) und Jan Bosse (Regie) bei den Ruhrfestspielen Tolstois "Anna Karenina" zu Theaterstoff.

Die Dialoge sind kurz und pointiert, jeder Spieler ist aber auch Erzähler. Ständig wechseln alle die Perspektive, sprechen über sich in der dritten Person, scheinen plötzlich in die Köpfe der anderen zu schauen. Tolstois große Landschaftsbilder, die Bälle, Pferderennen und Opernlogendramen sind zwar nur noch minimal vorhanden. Aber Petras transportiert epischen Atem auf die Bühne, behauptet nicht, das alles sei auf dem Theater ohne Verluste spielbar, lässt den Roman immer wieder durchschimmern.

Jan Bosses Kunst der Menschenerkundung ist stark genug, dass die stilisierte Form nicht zu einer Distanzierung führt. Das Ensemble des Maxim-Gorki-Theaters macht sich jeden Satz zu eigen, führt die Inszenierung auf die Schwelle zwischen Realität und Fantasie. Es ist kaum zu ergründen, wo die Wunschvorstellung aufhört und die Wirklichkeit anfängt.

In den größeren, kleineren und winzigen Räumen von Stéphane Laimés steil aufragendem Kastenhaus hören die Leute einander zu, kaum ein Gedanke ist privat. Sie suchen das Glück, die Liebe, einen gesicherten Platz im Leben und sind Gefangene ihrer Träume und Albträume.

Graf Wronski entwirft einmal eine romantische Klischeevorstellung und wird dabei hysterisch, zetert, wütet, kämpft um eine Fantasie, die er schon verloren weiß. Milan Peschel ist auf den ersten Blick eine Antibesetzung für diesen Offizier und Großgrundbesitzer, den im Film immer die Großen und Gutaussehenden spielen. Peschel füllt diesen Wronski mit einer unbändigen Lebensgier, einem Witz und einer Rotzigkeit, die beeindruckt. Er ist ein schwitzender Verführer, ein Spieler, der immer alles setzt.

Sein Gegenspieler ist Ronald Kukulies als Annas Ehemann Karenin, ein Vernünftiger, der Familie und Karriere über den Liebesrausch stellt. Jan Bosse zeichnet ihn mit großer Sympathie, mit Karenin wäre ein maßvolles Glück möglich, wenn Anna sich nicht hemmungslos in Wronski verschossen hätte.

Die Aufführung braucht keine aktualisierenden Verweise oder Texteinschübe. Die ausgezeichneten Schauspieler entwickeln ganz selbstverständlich heutige Charaktere. Wobei Fritzi Haberlandt lange Zeit zu sehr ihre bekannten Register zieht. Natürlich ist es wundervoll, wie sie drei Handtaschen übereinander trägt und mit dieser Ersatzbefriedigung überhaupt nichts anfangen kann. Wie sie girlie-gleich über Männer lästert und plötzlich hinter ihrer Albernheit Verzweiflung durchschimmert.

Aber diese Facetten hat sie schon oft in Stücken und Inszenierungen von Armin Petras (oder Fritz Kater) gezeigt. "Anna Karenina" ist kein sympathischer Verlierertyp aus Wolfen. Ganz am Schluss erst geht Fritzi Haberlandt volles Risiko und öffnet in einem gewaltigen Monolog Einblicke in Annas rasende Traurigkeit, den wachsenden Wahn bis zum Sprung zwischen die Waggons eines fahrenden Zuges.

Die Aufführung verlangt Konzentration, Jan Bosse macht es den Zuschauern nicht immer leicht. Auf die helle Kastenwand lässt er häufig Videos projizieren, die nicht dem Gang der Handlung folgen. Da blitzen Gesichter in Nahaufnahmen auf oder flimmern rätselhafte Szenen wie Traumbilder, die sich nicht gleich dechiffrieren lassen aber natürlich unterbewusste Bedeutung haben.

"Anna Karenina" ist eine gelungene Romanadaption, weil sie viel vom Reiz des Buches auf die Bühne transportiert und dafür eine ganz eigene Form findet. Weil Bosse und Petras Tolstoi aus unserer Gegenwart heraus durchdenken, ohne ihn zu glätten. Etwas weniger körperliche Aktion und mehr Mut zur Stille würde der Inszenierung noch mehr Assoziationsfelder öffnen.

Anna Karenina
Von Leo Tolstoi
Inszenierung: Jan Bosse
19., 20. und 21. Mai Ruhrfestspiele, Halle Marl
Ab 27. Mai im Maxim-Gorki-Theater Berlin