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Norwegisches Forschungsprojekt
Das Trauma der Opfer von Utöya hält an

Vor viereinhalb Jahren tötete der rechtsradikale Attentäter Anders Behring Breivik mit einer Bombe im Osloer Regierungsviertel und durch unzählige Schüsse in einem Jugend-Ferienlager auf der Insel Utöya insgesamt 77 Menschen. Die meisten Überlebenden und Angehörigen leiden laut einem fortlaufenden Forschungsprojekt nach wie vor unter posttraumatischem Stress.

Von Randi Häussler | 18.11.2015
    Premierminister Solberg legt einen Kranz für die Terroropfer nieder.
    Premierminister Solberg legt einen Kranz für die Terroropfer nieder. (dpa/picture-alliance/Heiko Junge)
    Es ist der 22. Juli 2011. Am späten Nachmittag herrschen in Oslo Chaos und Entsetzen: Eine Bombe in der Innenstadt hat die Regierungsgebäude stark beschädigt, Menschen sind verletzt, sieben hat die Bombe getötet. Auf Utöya, 40 Autominuten von Oslo entfernt, hat der Attentäter Anders Behring Breivik begonnen zu schießen. Eine junge Frau sucht mit ein paar anderen Schutz in einem Wäldchen.
    "Nach einer Weile hörten wir Geräusche hinter uns, auf dem Pfad, ein gutes Stück über uns. Und die Leute um mich rum flüsterten: Oh Gott, er kommt, er kommt, wir müssen weg!" Und dann sind wir gelaufen, eine Freundin und ich blieben die ganze Zeit zusammen. Wir liefen über einen Platz, wo sonst immer viel los ist. Jetzt war niemand da - außer zwei Jungen, die lagen auf dem Boden, tot."
    Nach gut einer Stunde, während der der Täter kreuz und quer die Insel durchkämmt und wahllos schießt, stellt ihn die Polizei. 69 Menschen - zumeist Jugendliche und sogar Kinder - sind tot, weitere schwer verletzt.
    In den Tagen darauf: Blumenmärsche, Kundgebungen, allen voran der damalige Ministerpräsident Jens Stoltenberg mit der Botschaft: Norwegen bleibt eine offene Gesellschaft. Die Welt schaut mit Bewunderung darauf, wie das kleine Land im Norden dem Hass begegnet. Ein Jahr später - der Mammutprozess gegen den Täter. Dann wird es ruhiger.
    Seelischer Schmerz als ständiger Begleiter
    Die Wunden, die körperlichen, sind mittlerweile verheilt oder zumindest vernarbt. Aber der seelische Schmerz, den die Attentate verursacht haben, ist ein ständiger Begleiter, sagt Gerd Kristiansen. Ihre zwei Söhne waren auf Utöya - nur einer von ihnen ist zurückgekehrt.
    "Man hat keine Kontrolle. Man kann gut gelaunt aufwachen und alles ist ok, doch dann geschieht irgendeine Kleinigkeit und schon ist man völlig neben der Spur. Ich kann zum Beispiel immer noch nicht Anders' Lieblingsspeisen essen. Es ist immer noch so, dass ich mich an viele Dinge neu gewöhnen muss."
    Der Staat hat damals flächendeckend für ganz Norwegen die therapeutische Betreuung der Überlebenden und Angehörigen übernommen. Deren Fort- oder Rückschritte werden fortlaufend in einem Forschungsprojekt dokumentiert. Ein vorläufiges Ergebnis diesen Sommer hat gezeigt, dass es einer kleinen Gruppe von Angehörigen vier Jahre nach den Anschlägen besser geht – die meisten aber zeigen nach wie vor posttraumatischen Stress.
    Das Leben geht einfach weiter
    Kari Dyregrov ist Forscherin und an dem Projekt beteiligt sind. Der 22. Juli sei sehr speziell im Vergleich zu anderen traumatischen Todesfällen.
    "Da war der enorme Fokus der Gesellschaft in der ersten Zeit - an dem die Hinterbliebenen ja teilgenommen haben. Sie waren mit im Gerichtssaal, sie haben die staatlichen Untersuchungen des Attentats und das Urteil verfolgt. Es hat lange gedauert, bis der Fokus in der Öffentlichkeit vorbei war. Danach blieben die Angehörigen allein zurück - und da kam der persönliche Verlust, die persönliche Trauer mit großer Wucht."
    Die Hälfte der Eltern, die ihr Kind auf Utöya verloren haben, arbeitet laut den Untersuchungen der norwegischen Forscher noch nicht wieder so viel wie vor dem Anschlag. Die Untersuchung hat auch gezeigt, dass enge Freunde der Opfer fast genauso leiden wie die direkten Angehörigen. Sie bekämen aber, so Kari Dyregrov, nicht die gleiche Hilfe.
    Manche Überlebende von Utöya sind aber auch überrascht von ihrer eigenen Kraft - Lara Rashid war 15 Jahre alt, als sie das Attentat von Utöya miterleben musste.
    "Wir Menschen sind viel stärker, als wir denken. Hätte mich vorher jemand gefragt, wie ich damit umgehen würde, wenn so etwas passiert - da hätte ich gesagt: ich würde nicht weiterleben können. Aber wenn es passiert, hast du keine Wahl. Das Leben geht einfach weiter."