"Drama findet in der Wahrnehmung statt"

    Britta Bürger im Gespräch mit Heiner Goebbels · 19.08.2012
    Ein schönes Geburtstagsgeschenk zum 60. hat sich der Komponist, Musiker und Theater-Professor aus Gießen, der Theatergrenzgänger Heiner Goebbels am Freitag gemacht: Er eröffnete als neuer Chef der Ruhrtriennale die erste Saison des Internationalen Kunstfestivals und auch als Regisseur zeichnete Goebbels für die Premiere von John Cages "Europera 1&2" auf der Bühne der Jahrhunderthalle in Bochum am Freitag verantwortlich.
    Britta Bürger: Die Ruhrtriennale ist ein millionenschweres Festival, das jeweils drei Jahre lang von einem Intendanten geleitet wird. Sie, Herr Goebbels, sind nach Gerard Mortier, Jürgen Flimm und Willy Decker nun der vierte Intendant. Können Sie für uns umreißen, was Sie anders machen wollen als Ihre Vorgänger?

    Heiner Goebbels: Mir geht es nicht darum, was anders zu machen, sondern ich glaube, ich mache einfach ein sehr subjektives Programm. Ein Programm, das mich zurzeit interessiert, was ich auch für wichtig halte, um einen zeitgenössischen Theater- und vor allen Dingen Musiktheaterbegriff zu vermitteln.

    Ich habe viele Künstler eingeladen, die ich sehr bewundere und über deren Ankunft hier ich sehr froh bin, sehr glücklich bin, dass es jetzt alles los geht. Und es ging da sozusagen weniger um eine Differenz als um eine Ausweitung dessen, was man alles unter Theater verstehen kann. Mein Theaterbegriff hat mit dem konventionellen Drama nicht mehr viel zu tun. Das Drama findet meines Erachtens eher in der Wahrnehmung statt.

    Das Drama ist ein Drama der Sinne, der Theatermittel, und das hat kaum jemand so radikal auf die Spitze getrieben wie John Cage.

    Bürger: Sie selbst inszenieren zum Auftakt "Europera 1 & 2", eins und zwei, also auch keine klassische Oper. Nach der Uraufführung 1987 wurde dieses Werk mit einer Ausnahme, glaube ich, nie mehr aufgeführt. Was fasziniert Sie jetzt an diesem Werk und an der Arbeit von John Cage?

    Goebbels: Ja, das wundert mich, je mehr wir arbeiten, wundert mich das immer mehr, dass dieses Werk bisher keine Anerkennung gefunden hat. Zugleich erleben wir auch, dass es sehr, sehr schwer ist, das zu realisieren.

    Es hat damit zu tun, dass alles das, wie man bisher über Opern nachdenkt, hier nicht funktioniert. Es geht nicht mehr um Rollen, es geht nicht mehr um Figuren, es geht nicht mehr um die alten Geschichten, die sich immer wiederholen und immer so ähnlich sind. Und es geht auch nicht um Wirkungen, die von einem Komponisten oder von einem Librettisten oder einem Regisseur bewusst hervorgebracht werden, sondern alles, was hier zusammenhängt in diesen Opern, hängt nur durch Zufall zusammen, und unser eigenes Interesse als Zuschauer, daraus einen Zusammenhang zu bilden, der ist eigentlich das treibende Motiv des Schauens und Hörens.

    Weil, Cage hat alle Mittel der Oper der letzten 300 Jahre praktisch in ihre Einzelteile zerlegt. Die Arie passt nicht zu der Orchestermusik, die Geste nicht zum Kostüm, das Kostüm nicht zum Bühnenraum, zum Bühnenbild. Und die Synopsis, die Cage verteilt hat für diese Opern, ist ebenso eine Collage aus 64 Opern und Synopsen, die er lustvoll kombiniert hat.

    Bürger: Heißt das, jeder Zuschauer rekonstruiert sich sein eigenes Werk?

    Goebbels: Ja, ich glaube, jeder sieht seine eigene Oper, und das Ganze ist sogar so bilderreich, also vor allen Dingen "Europeras 1", das ist, glaube ich, eher ein kaleidoskopischen Effekt auf den Zuschauer hat. Ich glaube eher, dass man in einen anderen Zustand gerät als den, einer Geschichte folgen zu können.

    Bürger: Wenn man auf die ausverkaufte Premiere schaut und auch auf den sehr gut laufenden Vorverkauf, dann könnte man ja auch sagen, dass Sie von der Arbeit Ihres Vorgängers, Willy Decker, durchaus profitieren.

    Ruhrtriennale 2012Er hatte eine Auslastung des Festivals von 87 Prozent, hat die Ruhrtriennale also als erfolgreiches Festival etabliert. Haben Sie auch Angst vor falschen Erwartungen des Publikums oder haben Sie das Gefühl, die Zuschauer sind bereit für eine Öffnung, für Neues, warten vielleicht regelrecht darauf.

    Goebbels: Ich glaube, dass das Publikum der Ruhrtriennale generell in den letzten zehn Jahren sich auch immer durch eine Neugierde ausgezeichnet hat. Es gab ja immer wieder große Werke der zeitgenössischen Musik und der zeitgenössischen Oper.

    Und die Tatsache, dass ich hier Schluss mache mit dem Repertoire, also mit dem, was die Zuschauer kennen, hat dem Vorverkauf offenbar überhaupt keine Einbußen verliehen.

    Der lief besser als in den vergangenen Jahren, und alle sechs Vorstellungen von "Europeras" waren schon nach wenigen Wochen ausverkauft. Das gab es so auch noch nie. Ich glaube, dass man tatsächlich gerade in einer reichen Kulturlandschaft wie NRW mit vielen Opernhäusern und Stadttheatern auch mal mindestens einmal im Jahr mal was ganz anderes sehen will.

    Bürger: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Komponisten, Künstler, Musiker, Theaterprofessor Heiner Goebbels. Heute wird er 60 Jahre alt und eröffnet am Abend in der Bochumer Jahrhunderthalle die Ruhrtriennale.

    "International Festival of the Arts", dieser Untertitel der Ruhrtriennale, der passt ja auch sehr gut zu Ihrem Konzept, Herr Goebbels, dem Konzept des gleichberechtigten Zusammenspiels von Künstlern und Künsten, von Technikern und Techniken.

    Dazu kommen jetzt aber noch die ungewöhnlichen Schauplätze, die Industriedenkmäler des gesamten Ruhrgebiets. Stillgelegte Zechen, Maschinenhallen, Gebläsehallen. Welchen Bezug haben Sie zum Ruhrgebiet, und in welcher Weise haben diese Orte Ihnen auch neue Impulse gegeben.

    Goebbels: Mein Bezug zum Ruhrgebiet ist relativ alt. Ich hab hier vielleicht mit die wichtigsten Theatererfahrungen als Komponist gemacht, ich habe Anfang der 80er-Jahre hier komponiert für Matthias Langhoff, für Klaus Peymann, hab mit den Bochumer Symphonikern zusammengearbeitet, aber die eigentliche Verbindung, glaube ich, die ich zu den Räumen habe, die ist unabhängig von der regionalen Erfahrungen.

    Ich habe selbst in meinen eigenen Stücken in den 80er-, 90er-Jahren vor allen Dingen immer wieder Räume der Industriekultur genutzt, um darin eine andere Art zu finden, wie man arbeiten kann. Also zum Beispiel nicht im Rhythmus eines Repertoirebetriebs, wo man nur bis nachmittags probt und Abends wird wieder irgendetwas anderes gespielt.

    Und habe auch immer die Auseinandersetzung mit den Kräfteverhältnissen gesucht, die solche Räume anbieten. Das heißt, das sind Träume, die relativ ungnädig sind, wenn es um Repräsentationskultur geht. Also, es sind einfach sehr reale Geschichtsräume, die einem allein durch ihre Materialität viel entgegenhalten und in denen man nicht so tun kann als ob.

    Und das habe ich viele meiner Stücke, ob das "Max Black" oder "Stifters Dinge" oder "Schwarz auf weiß", immer sehr geschätzt, wenn die Musik oder das Theater sich sozusagen einen Widerstand hat an dem Raum und nicht sich den Raum so baut, wie es ihn gern hätte.

    Bürger: Kreative Krafträume. Eine weitere Neuerung dieser Ruhrtriennale ist, dass Kinder eine wichtige Rolle spielen. Sie treten in Stücken auf, wo sie zum Beispiel Erwachsene auffordern, wieder Kind zu werden. Sie bewerten in einer eigenen Jury die Beiträge der Ruhrtriennale. Warum? Sind Kinder im Grunde das offenere Publikum, bereit zu unterschiedlichsten Imaginationen?

    Goebbels: Ja, ich glaube, Kinder sind weniger voreingenommen, von Grund auf neugieriger, sie haben noch nicht die festen Disziplinen, in die sie die Welt unterteilen, die uns oft so behindern, wenn wir etwas sehen, was wir nicht mehr einordnen können.

    Und uns geht es dabei auch um ein Zweites: Es geht generell darum, auch überhaupt das Verhältnis zum Zuschauer in einer anderen Weise auf Augenhöhe zu definieren. Und das gilt auch für die Kinder. Diese Art von Augenhöhe hat etwas damit zu tun, dass wir kein Programm machen, was sozusagen eine Voraussetzung braucht oder was eine Vorbildung oder eine Einführung oder eine einschüchternde bildungsbürgerliche Geste hat.

    Sondern wir machen ein Programm, was so neu ist, dass es für alle Zuschauer gleichermaßen gilt, und deswegen könnte man auch sagen, es ist Kunst für alle.

    Bürger: Das heißt, Ihr Publikum muss gar kein Bildungsgepäck mitbringen, sondern einfach nur die Lust und Fähigkeit zu purer Empfindung?

    Goebbels: Genau.

    Bürger: Im klassischen Konzertbetrieb geht das ja in eine ganz andere Richtung. Da gibt es eigentlich immer mehr Werkeinführungen, Publikumsgespräche, Workshops zu den Vorstellungen. Warum wollen Sie gerade nichts erklären?

    Goebbels: Das ist auch ein Makel, finde ich, überhaupt in der medialen Aufbereitung von Kunst, dass sie uns eigentlich die Erfahrungen, die so einzigartig sind und die uns so berühren und erschüttern können, dass wir die plötzlich erklärt bekommen.

    Manchmal sogar, bevor wir sie machen. Ich erinnere mich an viele Museumsführungen, aus denen ich dann schnell geflohen bin, in denen man sozusagen über die Wirkung eines Bildes aufgeklärt wird oder über das, was es im Hintergrund noch zu entdecken gibt.

    Und mir geht es darum, dass das Publikum selbst entdecken kann und darf und möchte und das Vergnügen daran hat. Und für diese Selbstentdeckung, dazu gehört es eben auch, dass man möglicherweise gar nicht alles versteht.

    Denn es geht nicht um ein Verstehen in dem klassischen Sinne einer Reduktion auf das, was man schon kennt, sondern es geht ja gerade um die Erfahrung des Unbekannten.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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