Sammlung

DDR-Alltagskultur in Los Angeles

Das Wende Museum in Los Angeles ist eines der umfangreichsten DDR-Archive weltweit - nun kann ein winziger Bruchteil der gewaltigen Sammlung in Buchform betrachtet werden. Mehr als 2500 Objekte werden in «Jenseits der Mauer. Kunst und Alltagsgegenstände aus der DDR» gezeigt, das Themenspektrum ist enorm: Es reicht von schreibmaschinengetippter Speisekarte, Netzbeutel zum Einkaufen und Hartgummi-Indianer bis zu Propaganda-Kunst und Stasi-Ausrüstung.
Ein winziger Bruchteil des Wende-Museums in Los Angeles kann in Buchform betrachtet werden. © picture alliance / dpa / Taschen Verlag
Von Michael Frantzen · 23.10.2015
Die umfänglichste Sammlung an DDR-Alltagskultur steht nicht in Ost-Berlin, sondern in Los Angeles. Der Gründer Justin Jampol ist regelmäßig in Ostdeutschland unterwegs. Margot Honecker überließ ihm Handschriften, die ihr Mann im Gefängnis verfasste.
"Guten Tag."
"Bonjour. Bonjour."
"Ja. Bonjour. Bonjour. Sind Sie vielleicht der Monsieur, mit dem ich vorhin telefoniert habe?"
"Ja."
"Michael Frantzen vom Deutschlandradio. Das ist meine Begleitung."
"Ick muss meine Brille aufsetzen."
"Das ist Justin vom Wende-Museum."
"Hallo. Freut mich sehr."
"Du kommst aus Schweden?"
"Nee. Aus Los Angeles."
"Oh. Los Angeles?!"
"Ja, weit weg. Ich habe Interesse an deutsche Geschichte."
An ostdeutscher Geschichte. Ostdeutscher Alltags-Geschichte, um genau zu sein. Dementsprechend macht sich Justin, der verkappte Schwede, ab und zu auf den Weg in den tiefen Osten. Vorzugsweise um zu stöbern: Im Abfall der DDR. Im "KDW", einem Trödelladen in Berlin-Lichtenberg mit Sinn für Ironie und DDR-Ambiente, ist er da gut aufgehoben.
"It's interesting: You even have the East German smell. Which we have in the museum too."
Riecht sogar noch nach Osten hier – wie in Justins Wende-Museum. Über 100.000 Alltagsgegenstände aus DDR-Bestand lagern in Los Angeles. Der blonde Mittdreißiger strahlt. Schon mal ein gutes Zeichen. Das mit dem ostigen Geruch.
"Ich zeig euch mal bisschen den Laden."
"Ah! Ja! (lacht) Wow. Ist schön."
Die Plastikflöte. Die Wand-Deko aber auch.
"Da ist Erich Honecker. Das ist Mielke – da oben. Wir haben hier so viele Sachen."
"Nen russischen Wecker."
"Aha. Radios?! Es ist beeindruckend. Ja. Das Stern-Radio. Ja, ja."
Davon hat das "Wende-Museum" auch einige im Sortiment – neben den orangenen Plastikstühlen aus dem "Petrochemischen Kombinat Schwedt" und diversen Flaschen "Ki-Wi", Kirsch-Whiskey vom "VEB Bärensiegel Berlin". Lauter Alltagsgegenstände, die einiges aussagen können über den untergegangenen "Arbeiter und Bauernstaat", findet Justin:
"Die DDR bestand nicht nur aus SED und Stasi. Versteh mich nicht falsch: Natürlich war die SED keine demokratische Partei – und die Stasi Teil eines Unterdrückungssystems. Aber die Leute haben versucht das Beste aus der Situation zu machen, im Alltag. Sie haben ihre kleinen Freiheiten gehabt – und nach Rissen im System gesucht. Unser Job beim Wende-Museum ist es herauszufinden, wo diese Risse waren – und sie zu erhalten. Alltagsgegenstände können solche Risse symbolisieren. Bei mir läuten immer die Alarmglocken, wenn ein Staat wie das wiedervereinte Deutschland verkündet: Die DDR-Zeit war so und nicht anders. Das ist eindimensionaler Blödsinn. Geschichte ist kompliziert, weil wir Menschen kompliziert sind."
Justin war als Geschichtsstudent häufig in Ostdeutschland
Meint der Historiker, ehe er sich seinen Weg bahnt durch den DDR-Trödel, dem Geschirr und Kinderspielzeugen. Wird immer noch entsorgt, fast wie zur Wende-Zeit. Mehr als eine Tonne Müll – so viel fiel zwischen Maueröffnung und Einheitsfeier in Ostdeutschland pro Kopf an – dreimal so viel wie im Westen. Deutsch und emsig entledigte sich der DDR'ler seiner selbst. Den Rest besorgte in den 90ern "Einig Vaterland". Justin hatte damals als Geschichts-Student häufig in Ostdeutschland zu tun – und das Gefühl, dabei zusehen zu können wie eine Vergangenheit zu Geschichte wird.
"Ich war noch Student, als ich auf die Idee mit dem Museum kam. Ich wollte in Oxford meine Doktorarbeit über die Alltagskultur der DDR schreiben. Das Problem war nur: In den Archiven wurdest du nicht fündig. Nehmen wir Speisekarten: So etwas Alltägliches verwahren weder Museen noch Archive. Dabei können Speisekarten unglaublich viel über eine Gesellschaft erzählen. Was gab es? Wie viel haben die Gerichte gekostet? Wann und warum waren Speisen durchgestrichen? Na gut, habe ich mir gedacht: Wo findest du so was?! Du findest es in Trödelläden wie diesem hier; auf Flohmärkten; irgendwelchen Dachkammern. So habe ich mich auf die Suche gemacht. Viel zu oft verschwinden solche Gegenstände - einfach so; als ob es sie nie gegeben hätte. Das betrifft ja nicht nur den Osten und die DDR."
Jede Gesellschaft ist wie eine Zwiebel. Die Bedeutungslagen schichten sich um die Gegenstände. Ergo ist Geschichte die Summe sämtlicher Geschichten. So in etwa lautet die Quintessenz von "Beyond The Wall" – dem kürzlich erschienenen 900 Seiten starken Bildband, der einen Ausschnitt aus der Sammlung des Wende-Museums zeigt. "Beyond the wall", nicht "Behind the wall" – jenseits der Mauer, nicht dahinter – das war Justin wichtig.
"Das Wende-Museum kann beim besten Willen nicht Ansichten verändern. Wir wollen niemanden überzeugen. Wir sind auch nicht so vermessen zu sagen: Wir erklären euch jetzt mal, wie die DDR funktioniert hat. Wir sind in erster Linie ein Forschungs-Institut. Unser Ziel ist es, eine vergangene Zeit zu dokumentieren und festzuhalten, wie sie im Laufe der Zeit wahrgenommen wurde und wird. Was mich immer wieder fasziniert, beim Gespräch mit DDR-Zeitzeugen: Jeder hat seine eigene Wahrheit. Es war so, sagt der eine. Quatsch! Es war genau andersrum, sagt der andere. Selbst die Fakten sind anders. Da werde ich als Historiker hellhörig. So viele verschiedene Meinungen, so viele verschiedene Perspektiven: spannend. Da muss mehr dahinter stecken."
Ein Kalifornier scheint den deutschen Osten besser zu verstehen als ein Münchner oder Hamburger: Justins wertfreier Ansatz hat ihm Türen geöffnet. Margot Honecker überließ ihm die Handschriften, die Erich, ihr Mann, nach der Wende im Gefängnis in Moabit verfasste; ein greiser Grenzsoldat kleine Wachtürme als Trinkgläser; die Sanierungsfirma, die sich um den Palast der Republik kümmerte, die Baupläne von "Erichs Lampenladen". Wollte in Deutschland keiner haben. In Los Angeles schon. In diesem Moloch, der für jemanden wie Christa Wolf Anfang der 90er geografisch wie mental Lichtjahre von der DDR und ihrer Stasi-Akte entfernt war.
"Auch Bertolt Brecht hat in Los Angeles gelebt, während des Zweiten Weltkriegs. Er hat es gehasst. Für ihn war L.A. voller Leute, die aus dem Nirgendwo kamen und nirgendwo hingingen. Keine Geschichte, keine Tradition, nichts. Er fand das wirklich schlimm. Ich nicht: Für mich hat es etwas Befreiendes. Du schleppst keinen geschichtlichen Ballast mit dir herum. Du kannst viel leichter in andere Vergangenheiten eintauchen – in andere Geschichte und Geschichten. Hinzu kommt: L.A. ist ein Schmelztiegel, hier leben ich-weiß-nicht-wie-viele ethnische Gruppen. Dementsprechend hast du in L.A. Museen zu allen möglichen Kulturen. Mit einer Ausnahme: Es gibt kein Stadt-Museum. Museen für andere Kulturen: Ja, aber keines über Los Angeles. Das ist typisch für L.A."
Wer suchet, der findet – im "KDW". Wahlweise filigrane "Sammeltassen zum Muttertag" – oder dickere Brocken, wie ganze Sitzreihen.
"We have ones like this too. The things beneath the..."
"This is..."
"Yeah."
"Das is aus einem Kino. Oder Hörsaal, aus einer Universität."
"Hörsaal!"
"Das kommt angeblich aus Wandlitz, aus dem Kino. Also wo schon Honecker gesessen hat."
Es soll nicht die einzige Preziose sein, auf die Justin stoßen wird.
"Wann bist du geboren?"
"Ähm..."
"'75?"
"'75?! Äh, '78."
"'78! Muss mal gucken. Das ist 'Das Magazin'. Das ist das einzige DDR-Magazin, wo auch nackte Frauen drin sind."
"Aber erotisch."
"Wir haben im Wende-Museum die Komplett-Ausgabe des 'Magazins'. Es hieß immer: Das Magazin war so populär, dass es durchschnittlich durch sechs Hände ging."
Das "Magazin" hat Justin einer seiner Scouts besorgt. Das sind Leute, die für das Wende-Museum nach Fundstücken fahnden. Meist Historiker oder Geschichts-Studenten. Sie werden immer noch fündig, auch wenn die meisten Flohmärke und Trödelläden inzwischen abgegrast sind - mehr als 25 Jahre nach dem Ende der DDR. Spannender sind da schon Privat-Sammlungen. Von Leuten, die ihr Leben einer Sache gewidmet haben: DDR-Punkmusik; dem Theater; der Dissidentenbewegung.
"Ich bin der Erste, der sagt: Wir können nicht alles horten. Bei unserer Sammlung ist es so, dass wir uns ständig überlegen: Welche Gegenstände sind noch in 100 Jahren aussagekräftig? Deshalb lehnen wir auch 99,9 Prozent der Sachen ab, die uns angeboten werden. Wir sammeln strategisch. Wir kaufen nichts auf teuren Auktionen. Wir verkaufen auch nichts. Wenn ein Forscher zu uns kommt und sagt: Ich möchte zu dem und dem DDR-Thema forschen - keine Ahnung - DDR-Textilien oder Hippies: Dann schauen wir, ob wir passende Objekte erwerben können. Damit er und andere mehr über diese Zeit erfahren können."
Wie sich Produkte aus der DDR und den USA ähneln
Vor kurzem hat das Wende-Museum in Los Angeles DDR-Textilien ausgestellt – in einem modernistischen Gebäude. Drei Stockwerke voller Stoffe. Knallbunte, folkloristische, abstrakte. War ein großer Publikumserfolg. Viele Besucher, erzählt Justin, seien ziemlich verwirrt gewesen: Und das soll aus DDR sein? Das sieht doch amerikanisch aus.Justin lacht. Genau das wollte er erreichen. Die DDR – sie war nicht nur das Andere, nicht nur fremd und abschreckend. Sondern dem Westen in vielem ähnlicher als gedacht. Im Design, der Architektur. Justin bleibt stehen und dreht sich langsam im Kreis. Der Trödelladen im Bungalow hier beispielsweise: Könnte auch gut und gerne in Los Angeles stehen.
"Für jemanden aus Los Angeles sieht das ziemlich vertraut aus. Der DDR-Stil war ja sehr geprägt durch den Modernismus. Gerade in der Architektur: die Bauhaus-Tradition. Die findest du auch in L.A. In L.A. haben sich großartige Bauhaus-Architekten wie Richard Neutra niedergelassen und tolle Häuser gebaut. Ich mache mir manchmal einen Spaß daraus, DDR-Gebäude wie das hier zu fotografieren und sie meinen Freunden zu Hause zu zeigen: So, ratet mal! Ist das L.A. oder Ost-Berlin? Die müssen oft passen. Du würdest dich wundern, wie ähnlich sich viele Gebäude sind."
Bei aller modernistischen Architektur: Aber die Tage des "KDW" sind gezählt. Ende des Monats muss der Trödelladen raus; Platz machen für einen Neubau. Der übliche Mix: Wohnungen, Büros, Tiefgarage. Berlin ist gefräßig und braucht Platz. Ein DDR-Flachbau – noch dazu ohne Denkmalschutz – steht da nur im Weg. Schade eigentlich, findet Justin:
"Wenn du dir anschaust, wo Sachen landen: Das ist schon aussagekräftig. Der Palast der Republik war zweifelsohne das wichtigste Gebäude, das in der DDR errichtet wurde. Wo ist es heute? Verschwunden. Es existiert nicht mehr. Für mich ist das eine vertane Chance. Wie willst du dich mit etwas beschäftigen oder es im Nachhinein verstehen, wenn alle Spuren beseitigt sind?! Ihr Deutschen sprecht immer von Aufarbeitung. Um etwas aufzuarbeiten, brauchst du Quellen. Gerade als Historiker. Ohne Quellen keine Aufarbeitung. Das führt doch nur dazu, dass dieselbe Geschichte wieder und wieder erzählt wird."
Geschichtspolitik mit dem Bulldozer: Das ist keine deutsche Spezialität. Längst schon hat das Wende-Museum seine Fühler in andere ehemalige sozialistische Länder ausgestreckt, um zu retten, was noch zu retten ist vom kommunistischen Erbe. In Lettland, der ehemaligen Sowjetrepublik, konnten Justin und sein Team vor zwei Jahren im letzten Augenblick verhindern, dass 3000 Poster aus dem Archiv der Roten Armee vernichtet wurden. Sowjetische Propaganda: Das wollte im Baltikum keiner mehr haben. Justin schon: Jetzt lagern die Poster in Los Angeles. Ein junger US-Historiker, der mit dem Wende-Museum zusammenarbeitet, will sie bald erforschen.
"Unsere am schnellsten wachsende Sammlung kommt aus Ungarn. Wir haben gerade mit dem Getty Museum einen Kooperations-Vertrag abgeschlossen: In den nächsten fünf Jahren wollen wir eine Sammlung zur ungarischen Kunst und Kultur aufbauen. Als wir angefangen haben, haben wir uns nur auf die DDR konzentriert – weil der Handlungsbedarf so enorm war. Wenn wir die Sachen nicht retten, landen sie als DDR-Abfall auf dem Müllhaufen der Geschichte. Das ist inzwischen anders. Heute haben viele Museen erkannt: Die DDR-Zeit war wichtig, ergo ist es wichtig, DDR-Kunst und Alltagsgegenstände zu bewahren. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, uns um andere Länder zu kümmern. Ungarn steht ganz oben auf unserer Liste. Die Regierung dort ist ausgesprochen nationalistisch. Der ungarische Premierminister Orban hat festgelegt: Sämtliche Kunst, die zwischen 1945 und 1989 in Ungarn produziert wurde, ist – Zitat – unauthentisch. Das ist russischer Kram. Weg damit! Völlig verrückt. Gerade in den 50er-Jahren haben ungarische Künstler unglaublich viel experimentiert. Da gibt es tolle Sachen, die man nirgendwo sonst findet. Doch das soll alles verschwinden. Weil es angeblich sozialistisch ist."
Muss man bald in den Westen fliegen, um den Osten, den ehemals sozialistischen, zu suchen? Justin zuckt die Schultern. Als Museumsmacher könnte ihm das nur Recht sein, als "politisch denkender Mensch" weniger. Bald wird sein Wende-Museum umziehen. Mehr Platz: Das ist dringend notwendig. Schon jetzt platzt die Sammlung aus allen Nähten.
"Unser Museum zieht in die ehemalige Kaserne der National-Garde in Culver City bei Los Angeles, in einen Bunker. Culver City ist eine Stadt des Kalten Krieges. Es war ein Ort, wo die Verteidigungs- und Filmindustrie nebeneinander existierten. Auf der einen Straßenseite haben sie 'Vom Winde verweht' gedreht – und auf der anderen irgendwelche Notfallszenarien geprobt. Der Bunker wurde 1949 gebaut – sprich: In dem Jahr, als die DDR gegründet wurde. Er ist ein Relikt des Kalten Krieges; ein Symbol, wie sehr L.A. Teil des Kalten Krieges war. Nicht immer nur die Russen. Da ziehen wir jetzt ein. Ich finde das toll; dass aus einem Ort, der für den Dritten Weltkrieg geschaffen wurde, ein Zentrum der Kunst und Kultur wird. Es ist der perfekte Ort für uns. Es hat fast schon etwas Poetisches: Kunst aus dem ehemaligen Ostblock findet unter dem Dach dieses Ur-amerikanischen Gebäudes Unterschlupf. Ich mag das. Es hat etwas von 'Schwertern zu Pflugscharen'."
Freut sich der Mann, der es mit Roland Jahn, dem Herrn über die Stasiakten, hält: "Auch in Diktaturen scheint die Sonne."
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