Dorf des Widerstandes

22.12.2009
In ihrer Romanbiografie schildert die Autorin Hilde Stieler ihre Jahre im Künstlerdorf Sanary-sur-Mer an der französischen Riviera, das in den 30er-Jahren zur Zufluchtsstätte der intellektuellen Elite auf dem Weg ins Exil wurde.
Über das Künstlerdorf an der französischen Riviera ist schon viel geschrieben worden. In Sibylle Bedfords Romanen etwa spielt Sanary-sur-Mer eine tragende Rolle als der Ort, der in den 30er-Jahren zur Zufluchtsstätte der intellektuellen Elite auf dem Weg ins Exil wurde. Auch die Autorin Hilde Stieler, Tochter aus gutbürgerlichem Hause, verschlägt es nach Sanary, wo sie bis zu ihrem Tode 1965 lebt.

In ihrer Romanbiografie schildert sie die Jahre in diesem "Paradies wider Willen" (Manfred Flügge) und liefert auch ein Gesellschaftsporträt aus der Zeit von 1900 bis 1950 mit den Schauplätzen Zürich, München, Berlin, Leipzig und Paris. Schon früh machte sie die Bekanntschaft von großen Künstlerinnen und Künstlern. Weil sie sich gern am Rand dieser illustren Zirkel bewegte, spielte sie eher die Rolle der teilnehmenden Beobachterin, der "Edelkomparsin". Diese Distanz, auch die historische - sie schreibt das Buch in den 50er-Jahren – kommt der romanhaften Chronik zugute.

Mit schnellen, kräftigen Strichen gibt sie den Figuren präzise Kontur, manche malt sie auch liebevoll aus wie den damals vergessenen Heinrich Mann. Viele ihrer Zeitgenossen bewundert sie nach Kräften, was sie aber nicht daran hindert, mit durchaus maliziösem Vergnügen deren Schwächen zu offenbaren. So im Falle des Frauenverstehers Rilke, von dem sie erzählt, eine reiche Pelzhändlersgattin habe ihn auf der gemeinsamen Reise nach Ägypten ohne einen Pfennig mitten in der Wüste stehen lassen, blieb doch die erhoffte amouröse Initiative aus. Ob es sich so zugetragen hat? Wie vieles in dem Buch klingt diese Episode zumindest sehr gut erfunden.

An solchen Stellen blitzt die Zeitgenossenschaft mit Vicki Baum und Irmgard Keun auf. Doch während deren Heldinnen sich selbstbewusst und schlagfertig geben, ist Hilde Stielers Ich-Erzählerin eine Figur, die die Farbe mit ihrer Umgebung wechselt und in der Liebe stets das große Glück sucht, eine Romantikerin mit Hang zum Unvollendeten. Gemeinsam aber ist all diesen Frauenfiguren der Drang nach emotionaler Unabhängigkeit, die sie nicht immer erlangen. In einer eigenen Variante scheint auch bei Stieler der neue Frauentypus der Zeit auf.

Auf alle Experimente des romanhaften Erzählens verzichtet sie, sie bleibt eng an der chronologischen Linie. Dynamik und Spannung liegen in der anschaulichen Schilderung unterschiedlichster Milieus, von den Soireen bei Walther Rathenau in Berlin bis zu Handlese-Aktionen auf Gartenfesten an der Riviera. Wenn mit Macht die Geschichte in das Leben ihrer Heldin einbricht, begegnet sie ihr unaufgeregt, mit Lakonie, manchmal auch in naivem Ton.

Dass der Herausgeber und Übersetzer Manfred Flügge dem Buch einen anderen als den von der Autorin gewählten Titel ("Les confessions d’Annouchka") gegeben hat, ist verständlich, aber dessen kolportagehafter Klang führt doch auf eine falsche Fährte. Gleichwohl ist seine Entdeckung ein großes Verdienst. Auch wenn Hilde Stieler es mit der stilsicheren Eleganz von Sibylle Bedfords Prosa nicht aufnehmen kann, so ist dieser biografische Roman doch ein stimmiger Nachruf auf eine untergegangene Welt.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary
Aus dem Französischen und herausgegeben von Manfred Flügge
Aviva-Verlag, Berlin 2009
344 Seiten, 22,50 Euro