Doppelschlag von Glück und Unglück

23.12.2008
Kostbare Eindrücke seiner Pariser Kindheit um 1900 beschreibt Julien Green in seinem Roman "Erinnerungen an glückliche Tage". Auf die Jahre des beinahe ungetrübten Kinderglücks vor 1914 folgt die weniger sorgenfreie Kriegsjugend. Alles in allem ist das Werk eine Liebeserklärung an Frankreich, geschrieben zur Zeit der Besetzung.
"Erinnerungen an glückliche Tage" ist die literarische Wiedergewinnung einer in mehrfachem Sinn verlorenen Zeit. Es ist eine Liebeserklärung an ein Land im Augenblick seiner tiefsten Demütigung. Als Julien Green (1900-1998) dieses Buch schrieb, war Frankreich eine deutsche Provinz, überwältigt im Blitzkrieg. Green war 1940 in die Herkunftswelt seiner Vorfahren, die amerikanischen Südstaaten, emigriert.

Anders als seine Romane verfasste er dieses Buch auf Englisch, es war adressiert an amerikanische Leser, um Werbung für die bedrängte französische Nation zu machen: "La France . . . von den Nazis beleidigt und bespuckt". Anstatt ins Politisieren zu geraten, beschrieb Green, was er Frankreich verdankte.

Er sammelte die kostbaren Eindrücke seiner Pariser Kindheit um 1900 und beschwor die französische Lebenskultur: Wie die Fenster am Morgen aufgehen und die Musik des Pariser Straßenlebens ins Zimmer tönt, vergegenwärtigt er mit wunderbarer sinnlicher Detailfreude. Mochte die über das Holzpflaster klappernde Pferdetram 1941 auch nur noch zum Lächeln sein - die urbane Mentalität von Paris lebte fort und verdiente die kämpferische Solidarität Amerikas.

"Erinnerungen an glückliche Tage" sind dabei nicht unbedingt das, was man von diesem Schriftsteller erwartete. Gerade in seinen frühen, kraftvollen Romanen hatte er sich einen Namen als Spezialist für menschliches Unglück und unselige Vereinsamung gemacht. "Mont-Cinère", "Adrienne Mesurat" und "Leviathan" sind Psychothriller der subtilen Art - Albträume in schlackenloser Prosa.

Man mochte sich bei der Lektüre dieser düsteren Darstellungen gepeinigter und verkniffener Seelen bisweilen fragen, wie es wohl um die innere Verfassung des Autors bestellt war. Handelte es sich um einen frühalten, neurotisch-lebensängstlichen Menschen? Keineswegs, wie nun in diesem erst postum veröffentlichten Erinnerungsbuch deutlich wird. Man darf sich den jungen Green als glücklichen Menschen vorstellen.

Die amerikanischen Südstaaten sind für den Jungen eine märchenhaft fremde Welt, die in den Erzählungen der Mutter aufscheint und die Fantasie des zukünftigen Schriftstellers ebenso stimuliert haben mag wie die offenbar familiäre Neigung zu Albträumen. Green und seine Schwestern bevölkern die gutbürgerliche Pariser Wohnung zum Ärger des Vaters mit Scharen von Gespenstern, gesichtslosen Monstren und abgeschlagenen Köpfen.

Man liest wunderbare Episoden wie die von der satanischen Versuchung im elterlichen Kleiderschrank: Der Junge reißt dessen Türen auf und fordert den Teufel in höchstem kindlichen Wagemut auf herauszukommen. In panischer Angst läuft er dann fort, ist sich hinterher aber sicher, dass die Kleider deutlich in Bewegung geraten seien. In solchen scheinbar beiläufigen Anekdoten verdichten sich usprungshaft die Motive eines Lebenswerks: der Glauben an eine Hinterwelt jenseits der handgreiflichen Realität, die katholische Obsession, die Faszination durch das Unheimliche.

Bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahr reichen die Erinnerungen. Drei Phasen sind zu unterscheiden. Auf die Jahre des beinahe ungetrübten Kinderglücks vor 1914 folgt die eindrucksvolle Beschreibung einer Kriegsjugend. Die Franzosen hatten den Weltkrieg mit seinen Materialschlachten tief im eigenen Land. Im vornehmen Hotel Ritz stöhnen die Verwundeten. Und die Truppen Kaiser Wilhelms kamen Paris bedrohlich nahe; mit weitreichenden Monstergeschützen wie der "Dicken Berta" ließen sie kommende Kriegsschrecken für Stadtbewohner erahnbar werden.

Auch für die Greens sind die Tage nun eher von Angst als von Glück geprägt. Fluchtartig wird die Wohnung verlassen und ein neues Quartier in der Innenstadt bezogen. Es waren Jahre schwerer Belastungen. Die Mutter stirbt bereits Weihnachten 1914, eine Schwester einige Jahre später, aufgerieben von den Anforderungen des Sanitätsdiensts. Julien Green aber bewahrt der Grundstock an Zuversicht und jugendlicher Vitalität vor Traumatisierungen. Auch wenn er dem Donnergrollen von Verdun als Kriegsfreiwilliger ab Sommer 1917 noch bedrohlich nahekommt.

Der dritte Teil des Buches ist ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Nach amerikanischen Studienjahren zieht es Green 1922 mit mächtiger Sehnsucht zurück nach Paris. Dort versucht er sich zunächst als Maler, kann sich aber mit der kubistischen Manier und der Ästhetik des Eckigen, Hässlichen, wie sie für den Modernismus kennzeichnend war, nicht anfreunden. Seine klassizistische Prägung macht sich später auch in der unziselierten Prägnanz seines literarischen Stils geltend.

Es hat beinahe etwas Märchenhaftes, wie bei Green dann die schriftstellerische Begabung durchbricht. Zu seinen frühen Romanen kommt er scheint's so unvermittelt wie zu seinem Verleger Gallimard und Bekanntschaften mit Jean Cocteau und André Gide. Das Buch endet mit einem Doppelschlag von Glück und Unglück. Der geliebte Vater stirbt, und aus Amerika trifft die Nachricht ein, dass "Adrienne Mesurat" zum "Buch des Monats" gewählt worden sei. Fortan konnte sich Julien Green ohne materielle Sorgen dem Schreiben widmen.

"Erinnerungen an glückliche Tage" ist nicht nur für Green-Kenner von Interesse. Es ist ein eigenständiges Buch, leichthändig und gewichtig zugleich. Es eignet sich gut als freundliches Entree in ein literarisches Werk mit vielen dunklen Ecken und Hinterzimmern der Verstörung.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag, München 2008
169 Seiten, 19,80 Euro