Donatella Di Cesare: „Von der politischen Berufung der Philosophie“

Philosophisches Asyl in einer gerechteren Welt

07:26 Minuten
Das Gemälde "Der Tod des Sokrates" von Jacques-Louis David
Die Hinrichtung von Sokrates bedeutete die politische Niederlage der Philosophie, meint die italienische Philosophin Donatella Di Cesare © imago images / United Archives International
Von Gerd Brendel · 28.06.2020
Audio herunterladen
Philosophie muss die Welt aus den Angeln heben. Davon ist die italienische Philosophin Donatella Di Cesare überzeugt. In ihrem jüngsten Buch umreißt sie ihren Ansatz einer radikalen Philosophie.
"Es gibt kein Außen mehr. So präsentiert sich das letzte Stadium der Globalisierung." Mit diesen Worten beginnt Donatella Di Cesares aktuelle Monographie "Von der politischen Berufung der Philosophie". Es gibt keine Alternative zur nach den Regeln eines globalen Kapitalismus funktionierenden Welt, lautet das gegenwärtige Dogma. Di Cesare geht der angeblichen Alternativlosigkeit auf den Grund. Wie konnte es soweit kommen?
Die Philosophin beginnt beim Vorsokratiker Heraklit, dessen Bild für die Erkenntnis das "Wachen" war – ein Bild, in dem Di Cesare eine Metapher für die Philosophie schlechthin erkennt. Für Heraklit war die Polis, die Stadt der gemeinsame Ort eines Kollektivs der Wachenden. Hier hatte die Philosophie ihren Platz. Aus dieser politischen Heimat wurde sie allerdings vertrieben – 100 Jahre nach Heraklit mit dem Prozess gegen Sokrates in Athen. "Wir müssen natürlich auch sagen, dass Sokrates die politische Niederlage der Philosophie bedeutet mit seiner Hinrichtung."

Mit Heidegger verbunden, mit Heidegger gebrochen

Das Denken wird gefährlich. Die Philosophen werden zu Fremden überall auf der Welt, auch in der Stadt. Sie werden zu Migranten des Denkens", sagt Donatella Di Cesare. Die Philosophie wird atopisch - ortlos, weil sie "in einer Welt wie unserer Welt, ohne außen, gefährlich fehl am Platz ist". Wortwörtlich. Als Kronzeuge einer atopisch lebensgefährlichen Philosophie führt Di Cesare das Schicksal ihres Landsmanns Giordano Bruno an, der von der Kirche als Ketzer hingerichtet wurde. Einen radikalen Bruch mit der Heimatlosigkeit der Philosophie markiert für Donatella Di Cesare Martin Heidegger – "dieser Lehrmeister des vertikalen Falls, der Geworfenheit und des Ausgesetztseins", wie sie ihn nennt.
Donatella Di Cesare am runden Tisch sitzend, vor einer grauen Wand.
Philosophin und Essayistin Donatella Di Cesare© laif / Leemage / B. Cannarsa
Heideggers radikal neuem Verständnis von menschlicher Existenz als freier Entfaltung, als Da-Sein, das sich immer handelnd zur Welt verhält, fühlt sich Di Cesare verpflichtet, auch biographisch: Sie promovierte bei dem Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer und jahrelang stand sie der italienischen Heidegger-Gesellschaft vor. Von ihrem Amt trat sie nach der Veröffentlichung von Heideggers "Schwarzen Heften" zurück, die dessen geistige Nähe zum Nationalsozialismus belegten. Dass er der "atopischen Philosophie" im nationalsozialistischen Staat eine politische Heimat zuwies, ist für Di Cesare der Hauptfehler Heideggers:
"Dieser Lehrmeister des vertikalen Falls findet jedoch den Ausweg des Exodus nicht und setzt – indem er hartnäckig und uneinsichtig in der Vertrautheit des Eigenen verbleibt – auf die falsche Revolution, auf die 'braune'." Dabei grenzt sich Di Cesare von anderen prominenten Kritikern Heideggers ab. Jean Paul Sartre fehlt fast ganz. Und Hannah Arendt wirft sie vor, diese habe mit ihrem umfassenden "Totalitarismus"-Begriff jedwede radikal-kritische "atopische Philosophie" unter Generalverdacht gestellt.

Verstummte Radikalität in der Philosophie

Der Philosoph mutiert zum Unterhändler. "Dieser neue Feuerwehrmann mit dem Gemüt eines Künstlers, löscht noch jeden Brand, mildert jede Meinungsverschiedenheit, legt jeden Dissens bei.", schreibt Di Cesare. Der Philosoph als der "Andere" sei längst verbannt worden:
"Während die Vorstellungskraft geschwunden ist, hat sich das Denken, das immer Denken des Über und des Anderen ist, auf wiederholendes Berechnen reduziert." Di Cesares scharfzüngige Beschreibung dieses Terrors der Immanenz erinnert an Herbert Marcuses "eindimensionalen Menschen."
Wie ihr Kollege in den 60er Jahren stellt sie die "Systemfrage". Aber Di Cesare hütet sich davor, ein alternatives System als Antwort zu präsentieren. Sie beruft sich auf den schonungslosen Frager Sokrates und entdeckt im melancholischen Flaneur Walter Benjamin einen Verbündeten.

Philosophie: Uneingelöste Träume von einer gerechteren Welt

"Für Benjamin ist eben sehr wichtig, das Erwachen als Erinnerung der Träume, die man vergessen hat." Die uneingelösten Träume von einer gerechten Welt. Der wahre Philosoph ist für Di Cesare "ein Asylsuchender in seiner Stadt. In seiner Nicht-Zugehörigkeit, Nicht-Angehörigkeit findet er sich aufseiten der zahlreichen Fremden, Exilanten, Einwanderer wieder."

"So wie die Philosophie atopisch ist, also dezentriert, und achronisch, also gegen ihre Zeit – so soll die Philosophie ihren negativen Zug bewahren. Die Philosophie soll keine Arche, kein Prinzip, keine Begründung haben."
Die Philosophie sei zur Politik berufen, als radikale Kritik: anarchisch, voraussetzungslos, herrschaftslos. Donatella Di Cesare erzählt Philosophiegeschichte als Exilgeschichte. Unweit ihrer Wohnung auf einem der sieben Hügels Roms liegt der Vatikan mit Rafaels Fresko die "Schule von Athen". Platon und Aristoteles schreiten durch einen Figuren geschmückten Torbogen, umgeben von Philosophenkollegen. Wie wohl Di Cesares Version aussehen würde? Sokrates Hand in Hand mit Walter Benjamin. Ein gestürzte Heidegger-Büste zu ihren Füßen, in einer herunter gekommenen Einkaufspassage mit Ramschläden, umringt von Obdachlosen, statt von Toga tragenden Gelehrten.
Mehr zum Thema