Dokument des Naziterrors

12.06.2009
Seit der Erstveröffentlichung 1947 gehören die Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens Anne Frank aus Amsterdam zu den meistgelesenen Lebenszeugnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Jetzt erscheint ihr Tagebuch zum ersten Mal in ungekürzter Form als Hörbuch - gelesen von der Schauspielerin Fritzi Haberlandt.
"Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein."

Dies ist Anne Franks erster Eintrag in ihr Tagebuch, das sie zu ihrem Geburtstag am 12. Juni 1942 geschenkt bekam, nur wenige Wochen, bevor sie, ihre Familie und Bekannte ihrer Eltern im von den Deutschen besetzten Amsterdam untertauchen mussten. Von nun an notierte sie darin alles, was sie sah, erlebte, dachte. Das Tagebuch wurde ihr zu einem steten Begleiter, zur fiktiven Freundin, die sie Kitty nannte.

"Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines 13-jährigen Schulmädchens interessieren wird."

Darin sollte Anne nicht Recht behalten, denn ihre Aufzeichnungen wurden zum Symbol des Überlebenswillens gegen den Naziterror schlechthin. Umso erstaunlicher, dass das Tagebuch nach einer erheblich gekürzten Fassung als Hörbuch erst jetzt in vollständiger Länge vorliegt. In ihren detaillierten Eintragungen protokolliert das aufgeweckte Mädchen mit erstaunlicher Beobachtungsgabe den Alltag im Versteck eines Hinterhauses, die belastende Enge, die kargen Mahlzeiten, Streit, Eifersucht, Neid innerhalb der Notgemeinschaft, kurzum: das Leben in seiner Ausnahmeform.

"Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinaus dürfen, und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden. Das ist natürlich eine weniger angenehme Aussicht."

Bei aller Klarsichtigkeit verfügt die junge Tagebuchschreiberin über ein ausgeprägtes Talent, das Geschehen und sich selbst aus der Distanz zu betrachten. Damit versucht sie trotzig, dem drohenden Grauen zu begegnen, dem Schrecken seine Allgegenwart zu nehmen. Ihre Waffen dagegen sind, sehr ungewöhnlich für einen Teenager, Humor und Ironie. Ungewöhnlich ist auch, wie Fritzi Haberlandt sich in die Gefühle, Nöte, Sehnsüchte, Gedanken einer 13-Jährigen hineinwirft, so frisch und frech und unverblümt, als sei auch sie kein Jahr älter. Es ist so viel Mädchenhaftes in ihrer Stimme, so viel Spitzes, Raues, Eckiges. Aber was für eine Beweglichkeit enthüllt sie zwischen den Zeilen, was für eine Wandelbarkeit in den Haltungen, was für eine ungezogene, auch leichte Bockigkeit im Timbre. Wie alt ist sie? 15 oder 25? Sie wurde gerade 34.

"Natürlich falle ich sehr oft aus der Rolle und kann mir bei Ungerechtigkeiten die Wut nicht verbeißen, sodass wieder vier Wochen lang über das frechste Mädchen der Welt hergezogen wird. Findest du nicht auch, dass ich manchmal zu bedauern bin? Es ist nur gut, dass ich nicht nörglerisch bin, sonst würde ich versauern und meine gute Laune verlieren."

Nein, die gute Laune verliert Anne Frank fast nie. Das verdankt sie nicht zuletzt ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik, die aus ihren Aufzeichnungen ein bemerkenswertes Dokument schriftstellerischen Könnens macht.

"Ich war immer der Clown und der Taugenichts der Familie, musste immer für alle Taten doppelt büßen, einmal durch Standpauken und einmal durch meine eigene Verzweiflung."

Der Spiegel nannte Fritzi Haberlandt einmal eine "Ausnahmeakteurin", weil sie sich nie in Rollenklischees erschöpft. Egal, ob sie "Lulu" spielt, wo sie alle Weiblichkeitsstereotypen, mit der die männerfressende Femme fatale normalerweise auf die Bühne kommt, außer Kraft setzt, oder ob sie wie im Kinofilm "Erbsen auf halb sechs" als blinde Lehrerin einen Theaterregisseur das Leben in der Dunkelheit lehrt: Haberlandt stellt ihre Figuren mit einer seltenen Eindringlichkeit dar. Weil sie jede Art von Exhibitionismus meidet, gelingen ihr die Leisen, die Verzweifelten besonders gut.

"Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass die Welt für uns je wieder normal wird. Ich spreche zwar über 'nach dem Krieg', aber dann ist es, als spräche ich über ein Luftschloss, etwas, das niemals Wirklichkeit werden kann. Ich sehe uns acht im Hinterhaus, als wären wir ein Stück blauer Himmel, umringt von schwarzen, schwarzen Regenwolken. Das runde Fleckchen, auf dem wir stehen, ist noch sicher, aber die Wolken rücken immer näher, und der Ring, der uns vor der nahenden Gefahr trennt, wird immer enger."

So lässt sie auch dieses Tagebuch in geradezu zärtlicher Anteilnahme lebendig werden. Indem sie alles auf ganz kleine Mittel reduziert, stellt sie eine ganz große Intimität her, fast so, als spräche das Mädchen Anne Frank aus ihr - und unmittelbar zu uns.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Anne Frank: Tagebuch
Gelesen von Fritzi Haberlandt
Argon-Verlag, Berlin 2009
9 CDs, 29,95 Euro