Dörfer in Brandenburg

Ohne Berlin geht es auch

10:14 Minuten
Blick auf den Dorfplatz mit Kirche in Tröbitz
Das Dorf Tröblitz hat 600 Einwohner: In dem kleinen Ort ist Eigeninitiative gefragt. © Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Von Thilo Schmidt · 17.05.2021
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Früher war die Nähe zu Berlin ein Standortvorteil für Brandenburger Gemeinden. Doch die Bedeutung der Hauptstadt nimmt für die Orte mehr und mehr ab. Ein Streifzug durch Dörfer, die sich selbst um ihre Zukunft gekümmert haben.
"Wir haben zurzeit keine Fußballmannschaft. Weil es einfach an jungen Leuten fehlt. Nicht, weil die abgewandert sind, sondern weil die alle Arbeit haben. Und die können unter der Woche eben nicht trainieren, oder schlecht trainieren." Das war nach der Wende längst nicht abgemacht, in Tröbitz, im Süden Brandenburgs.

Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner

Der VEB Landmaschinenbau wurde abgewickelt. Von über tausend Einwohnern ging fast die Hälfte weg. Mit der Zeit gingen auch Sparkasse, Bäcker und Drogeriemarkt. Und vom 120 Kilometer entfernten Berlin konnten sie hier kaum profitieren. Zu weit weg, sagt Bürgermeister Holger Gantke.
Gantke, ein Ur-Tröbitzer, wollte nicht mehr nur zusehen. Eines Tages, Mitte der Neunziger sei das gewesen, berichtet Gantke, "kam der Pfarrer auf mich zu und einige andere Geschäftsleute, und haben gesagt: Willst du dich nicht für den Ort engagieren, möchtest du hier nicht was tun? Wenn wir jetzt hier nicht zusammenhalten und für den Ort etwas bewegen, dann geht das den Bach runter. Hier gab es keine Arbeit, die jungen Leute sind alle weggegangen, hier drohte alles zu veröden, alt zu werden, die Schule drohte, zuzumachen."
Deshalb engagierte Gantke sich in der Gemeindevertretung, seit elf Jahren ist er jetzt Bürgermeister. Als 2000 der Tröbitzer Schule die Schließung drohte, gründeten sie eine Evangelische Grundschule. Und den Supermarkt, der letztes Jahr aufgegeben wurde, übernahmen sie auch in Eigenregie.

Erlebnisbad für ein 600-Seelen-Dorf

Wir gehen durch den Ort, zum Tröbitzer Schwimmbad. Um das haben die Tröbitzer Mitte der 1990er-Jahre besonders hart gekämpft. Damals hätten sie einen Beschluss gefasst, für den sie manche für verrückt erklärt hätten, berichtet Gantke: Sie sanierten das heruntergekommene Schwimmbad für mehrere Millionen Mark. Und jetzt hat Tröbitz bei 600 Einwohnern ein richtiges Schwimmbad. "Das ist heute das Kassenhäuschen, das ist das Schwimmmeisterbüro", zeigt der Bürgermeister.
"Nächste Woche lassen wir Wasser ein. Wir denken, dass wir Ende Mai eröffnen können." Es gibt zwei große Becken, Massagedüsen im Wasser und einen Kiosk.
Die Gemeinde ist verschuldet wegen des Schwimmbads. Bürgermeister Gantke regt auf, dass das Schwimmbad eine "freiwillige Leistung" der Gemeinde ist, also nichts, was sie vorhalten muss. Schließlich würden hier jedes Jahr 60 Kinder schwimmen lernen.
Das Erlebnisbad ist Dorfmittelpunkt und Jugendclub, manche kommen nur, um nach Feierabend etwas zu trinken, sagt er: "Wir haben hier schon Beach-Partys gefeiert, richtig dolle, mit großer Bühne, mit Hawaii-Strand da drüben, mit Strandkörben, das ging bis früh."
Eigentlich ist das Schwimmbad eine Nummer zu groß für das kleine Tröbitz. Zumal es nach über 25 Jahren schon wieder sanierungsbedürftig ist. "Da fehlt frühmorgens das halbe Becken, weil es irgendwo abgelaufen ist, wieder ein Rohr geplatzt. Brauchen Sie Geld für Reparaturen, wird wieder umgeswitcht. Ist ja alles auch nicht so richtig lupenrein, aber anders geht's ja nicht."

High-Tech im alten Kulturhaus

Gantke, der im Ort eine Autowerkstatt betreibt, ist ein hemdsärmeliger Typ, der Dinge auch mal unkonventionell löst. Wenn es am Schwimmbad was zu tun gibt, dann helfen ihm lokale Handwerker auch schon mal zum Selbstkostenpreis.
Aber sie tun es dennoch nicht ganz selbstlos, betont der Bürgermeister. "Die wollen ja auch selber schwimmen gehen, und das ist für die Infrastruktur gut: Denn die brauchen ja irgendwann wieder Angestellte, für die das hier ein Pfund ist, wenn sie hierbleiben wollen."
Vom ehemaligen VEB Landmaschinenbau mit einst über tausend Arbeitsplätzen ist nur noch das alte Kulturhaus übrig. Dort ist jetzt ein High-Tech-Unternehmen eingezogen. "Es gibt keine DDR-Rockgruppe, die da nicht gespielt hat. Von den Puhdys angefangen über Stern Meißen bis Karat, die waren alle hier."
Ein Mann steht im Blaumann vor dem Schwimmbad in Tröbitz.
Holger Gantke wurde vom Pfarrer angesprochen und ist nun Bürgermeister.© Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Das war es dann auch schon mit der Ostalgie. In Tröbitz wurde angepackt, von Anfang an, sonst gäbe es vielleicht keine Schule mehr, keinen Konsum, kein Schwimmbad, kein Gewerbegebiet. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, Berlin hin oder her.
"Ich habe ja eine relativ große Klappe", sagt Gantke. "Ich trete ja für die Allgemeinheit ein und deswegen fasse ich manchmal auch Sachen an, die ich nicht anfassen sollte. Bis jetzt hat das aber immer geklappt."

Eine Stunde mit dem Zug nach Berlin

Wie wichtig ist Berlin für Brandenburger Orte? Nächste Station, etwas näher an der Hauptstadt, etwa 80 Kilometer: Großwudicke im Havelland. Mit dem Zug schafft man es in einer Stunde nach Berlin, so reicht der Speckgürtel bis hierher, bis hinter Rathenow. Für kleine Orte wie Großwudicke lange Zeit ein Glücksfall.
"Es gab ja die Demografieprognose, die relativ düster bei uns aussah," sagt Felix Menzel: "Die Leute werden immer älter, ihr werdet immer weniger, die Dörfer sterben aus", erinnert sich der hauptamtliche Bürgermeister der Gemeinde Milower Land, zu der Großwudicke gehört. "Aber inzwischen ist es ja so – und damit hatte niemand gerechnet –, dass wir wieder wachsen."
Die Region halten vor allem mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe in Schwung. Natürlich wird nach Berlin gependelt. Aber mittlerweile auch nach Großwudicke. "Da ist ein Berliner, der kommt her und pflegt seinen Esel hier", erzählt Menzel. "Der hat nur ein Stückchen Land, da hat er einen Esel, eine Kuh und drei Schafe – der pendelt her, versorgt die und fährt wieder los."
Raus auf das Land, das merken viele Dörfer in Brandenburg, ist immer noch und mehr denn je im Trend – und die Entfernung zu Berlin ist fast zweitrangig.

Die Bodenpreise haben sich versechsfacht

Mitten im Ort, in einem kleinen Flachbau, haben zwei junge Großwudicker ein Coworking-Space gegründet, in dem man tage- oder wochenweise einen Arbeitsplatz in netter Gemeinschaft mieten kann. An den Schreibtischen treffen Berliner Politikberater auf selbständige Webdesigner oder einen Professor aus Holland, der seine Vorlesungen digital aus Großwudicke hält.
Das merkt auch der Dorfmetzger, der sich über all die Jahre gehalten hat in Großwudicke. "Wir haben mehr Leute hier, die sich was zu essen holen", erzählt die Metzgerin. "Sind ja auch welche zu Hause, oder ganz viele, und die holen sich es hier. Endlich wird mal wieder gekocht."
In Großwudicke, sagt der Bürgermeister noch, werden die Häuser über Nacht verkauft, sie stehen nicht einmal in der Zeitung. Der Preis für den Quadratmeter Bauland sei in zwei Jahren von zwölf auf 70 Euro angestiegen.
Der Andrang auf das Land ist enorm. Und je näher Berlin ist, umso größer ist dieser Andrang.

Dorfentwicklungskonzept für Prötzel

Simona Koß ist Bürgermeisterin von Prötzel, 40 Kilometer östlich von Berlin: "Die Menschen möchten nicht noch 120 Wohneinheiten haben oder 240", sagt sie. "Es muss im Einklang mit dem sein, was dörflicher Charakter ist."
Tausend Einwohner hat Prötzel, und längst nicht alle sind begeistert von Bauboom und Zuzug. Mit dem Auto ist man von hier in einer Stunde in Berlin. In diesem Radius sind Schlafstädte entstanden, von denen manche ihre Einwohnerzahl seit 1990 verdoppelt haben.
"Neulich in der Bauausschusssitzung haben die Bürger noch mal ganz klar gesagt, sie möchten nicht, dass hier Verhältnisse wie in einem anderen Ort entstehen", berichtet Koß. "Dass dann 120 Wohneinheiten mitten im Ort ausgewiesen werden."
Bürgermeisterin Simone Koß steht auf einer Dorfstraße, links verläuft eine Mauer und es stehen dickstämmige Bäume, rechts ist die Dorfstraße zu sehen.
Bürgermeisterin Simone Koß will einen sanften Zuzug nach Prötzel organisieren.© Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Simona Koß spricht von "Wachstumsschmerzen" – Pendler, die nur zum Schlafen kommen, bereicherten den Ort wenig. Aber die Infrastruktur müsse mitwachsen, Kitas, Schulen, die Verkehrsanbindung.
Die Gemeinde Prötzel setzt darum auf sanften Zuzug. "Um den Zuzug zu begleiten, die Entwicklung der Gemeinde Prötzel weiter voranzubringen, haben wir ein Dorfentwicklungskonzept auf den Weg gebracht", erzählt Koß. "Was wollen wir denn eigentlich in dieser Gemeinde? Wollen wir nur Schlafort werden? Wollen wir uns naturschutzrechtlich entwickeln?"

Leben und Arbeiten auf dem Dorf

In der Gemeinde gibt es kaum große Unternehmen, aber viele kleine Handwerksbetriebe. Nach der Wende litt Prötzel unter der Auflösung der NVA, die hier Standorte betrieben hatte.
Auch in der Landwirtschaft verloren viele Prötzeler ihre Arbeit. Die Nähe zu Berlin machte ein wenig davon wieder wett. Aber das allein reicht heute nicht mehr. Die Gemeinde braucht neue Ideen – für sanften Zuzug, der die Dorfgemeinschaft stärkt.
Eine Hofeinfahrt im Ortsteil Prädikow führt in einen riesigen Gutshof aus bestimmt einem Dutzend Gebäuden. Hier entstehen Wohnungen – aber nicht nur das. "Das ist der größte Vierseithof Brandenburgs, hier sehen wir das Gutsverwalterhaus", erzählt Carsten Bäuerle.
Bäuerle, Gummistiefel und Zimmermannshose, ist einer der zukünftigen Bewohner. An Wochenenden helfen sie hier selber mit. Der Gutshof gehört einer Stiftung, die ihn in Erbbaupacht an eine Genossenschaft übergeben hat. Die künftigen Mieter sind zugleich deren Genossen.

Ein Hof als Gegenentwurf zur Schlafstadt

"Es wird gerade die Dorfscheune erbaut und wir planen mit der Eröffnung im August. Das ist dann ein Kultur- und Gemeinschaftszentrum für das gesamte Dorf und für den Hof natürlich auch."
Der Gutshof ist der Gegenentwurf zur Schlafstadt: "Die Idee ist schon, hier zu leben und auch hier zu arbeiten", sagt Bäuerle. "Hier sollte also auch Gewerbe angesiedelt werden, und langfristig ist tatsächlich das Ziel, hier auf Hof Prädikow zu leben und auch zu arbeiten."
Die meisten der zukünftigen Bewohner leben – und arbeiten – noch in Berlin. Am Ende, wenn alles fertig ist, werden die meisten von ihnen hier arbeiten, im eigenen Gewerbe auf dem Hof oder vor dem Computer daheim. Und nicht pendeln. Obwohl Berlin ja fast um die Ecke ist.
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