documenta-Künstler Hiwa K in Berlin

Nirgends zu Hause

Hiwa K während des Aufbaus seiner documenta-Skulptur
Hiwa K während des Aufbaus seiner documenta-Skulptur © Deutschlandradio / Ludger Fittkau
Von Simone Reber  · 01.06.2017
Auf der documenta in Kassel wird der kurdisch irakische Künstler Hiwa K seine Röhren-Skulptur zeigen. Zuvor wurde in Berlin jetzt in den KW Institute for Contemporary Art seine Ausstellung "Don't Shrink Me to the Size of a Bullet" eröffnet.
Ein Stethoskop an der Brust tanzt Hiwa K in seinem Film "Moon Calendar, Iraq" Flamenco zum Schlag seines eigenen Herzens. Er verbindet die Tanzprobe mit einem Besuch der Amna Suraka, dem ehemaligen Gefängnis des irakischen Sicherheitsdienstes, das berüchtigt war für Folter und Vergewaltigung.
"Ich wollte erst die innere Architektur von meinem Körper hören. Von meinen Herz, das begrenzt ist von meinem Körper und meiner Haut. Durch diese Flamenco Schuhe, wenn ich probe, ich schlage den Boden und der Klang geht zurück zu mir. Es hat eine blinde Art und Weise, blinde Attitüde, dass man den Raum misst. Nicht mathematisch misst, sondern mit anderen Maßstäben, die mit Erinnerung zu tun haben."

Sein Werk kreist um die Entwurzelung

Das Werk von Hiwa K kreist um Erinnerung, um die Anpassungsfähigkeit von Kultur und um Entwurzelung. Ich bin nirgends Zuhause, antwortet der Künstler auf die Frage nach seiner Heimat. Schon als Kind wechselte seine zehnköpfige Familie zwischen dem arabischen und dem kurdischen Viertel seiner Geburtsstadt Sulaimaniyya.
"Mein Vater war ein Kaligraph, Romantiker und er hat nur seinen Job gemacht, hat nicht viel Geld verdient. Meine Mutter hat jedes Mal ein Haus gebaut. Manchmal ist sie nach Europa gekommen und hat Gold gekauft und geschmuggelt und dadurch hat sie Geschäfte gemacht. Und von dem Gewinn hat sie ein Haus gebaut."
Das Haus wurde verkauft, die Familie zog weiter. Zwei Teppiche zeigen in der Ausstellung die unterschiedlichen Techniken des Murmelspiels, die sich Hiwa K als Kind aneignete. Den arabischen Wurf mit senkrechter Hand und das kurdische Spiel mit flacher, waagrechter Hand.
"Ich erinnere mich, dass wir manchmal nach neun Monaten umziehen mussten. Und dann nach zwei Jahren nochmal. Ich habe nie Freunde gehabt, ich habe immer noch Probleme, wenn Leute mir nahe kommen, weil ich keine Freundschaft schließen kann, weil ich immer Angst habe, dass die weg gehen. Ich habe immer das Gefühl, dass ich mit meiner Tasche bereit sein muss."

Als Hiwa K während des Golfkriegs 2001 nach Europa floh, lernte er Flamenco beim spanischen Gitarristen Paco Pena. Die Musik, die auch von arabischen und kurdischen Rhythmen beeinflusst ist, erinnerte ihn an den Sound seiner Kindheit. In seiner Kunst stürzt er sich in die Erfahrung, in das Experiment, um daraus zu lernen. Ähnlich entstand der Film "This Lemon tastes of Apple". Der Titel erinnert an Saddam Husseins Giftgasangriff gegen die Kurden in Haldabdscha im Jahr 1988.
Röhren vom documenta-Kunstwerk von Hiwa K an der documenta-Halle in Kassel.
Röhren vom documenta-Kunstwerk von Hiwa K an der documenta-Halle in Kassel.© dpa / Swen Pförtner
"Diese Chemikalien, das hat nach Apfel gerochen. Das ist interessant, ich habe von vielen Verwandten und Leuten gehört, die ganz leicht betroffen waren, und die haben erzählt, das hat nach Apfel gerochen. Also, wenn Du Apfel riechst, dann ist es fast vorbei."

Hiwa K begleitete den Protestzug in Sulaimaniyya

2011, im arabischen Frühling, der wie Hiwa K sagt, ein kurdischer Frühling war, forderten Demonstranten in Sulaimaniyya mehr politische Beteiligung und wurden mit Tränengas zurückgedrängt. Dagegen schützten sie sich mit Zitronen. Hiwa K begleitete den Protestzug und blies auf der Mundharmonika Ennio Morricones "Spiel mir das Lied vom Tod". Sein Auftritt wurde gefilmt, aber der Kameramann, der die Bilder aufgenommen hat, soll vor drei Jahren in die Hände des IS geraten sein.
"Einer sagt, er ist tot. Andere sagen, dass er jetzt für ISIS arbeitet. Er muss arbeiten, weil er ein guter Kameramann ist. Und ich versuche, soviel wie möglich ISIS Videos zu schauen. Wenn ich diese Sprache wieder finde, diesen Blick, wie er schneidet, wie er Sachen zusammen bringt, dann würde ich wissen, dass er am Leben ist."
Vom Verkauf der nächsten Edition will Hiwa K versuchen, den Kameramann auszulösen. Das Leben drängt sich unmittelbar in dieses Werk. Für seine jüngste Arbeit hat der Künstler kurdische Existenzialisten zum Wandel des Irak nach dem Golfkrieg befragt, zu ihren Erfahrungen mit der freien Marktwirtschaft. Einer dieser Philosophen fährt in Berlin Taxi.
"Einer von denen ist Bakr Ali, gestern habe ich ihn eingeladen, er ist ein Taxifahrer und ist ein Denker, wo ich sein Buchregal und alle seine Bücher installiert habe in seinem Taxi. Er wird heute Abend auch hier her kommen."
Murmelspiel, Flamenco, ein fahrbare philosophische Bibliothek. Wundersam entstehen aus Migration und Entwurzelung neue Kulturformen. Am Ende des Gesprächs stürzt der Künstler zum nächsten Termin, kommt schnell noch einmal zurück und sagt höflich: "Ich habe vergessen, die Hand zu geben."

Die Ausstellung "Don’t Shrink Me to the Size of a Bullet" von Hiwa K wird bis zum 13. August gezeigt.

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