DIW-Präsident zur Flüchtlingskrise

"Der Arbeitsmarkt kann diese Zuwanderung verkraften"

Der Ökonom und Buchautor Professor Marcel Fratzscher auf der Frankfurter Buchmesse. Er leitet seit 1. Februar 2013 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Der Ökonom Marcel Fratzscher mahnt zu zügiger Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt © picture alliance / dpa / M. C. Hurek
Marcel Fratzscher im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 22.10.2015
Steuererhöhungen, Zusatzkosten, neue Staatsschulden? Viele Ökonomen rechnen mit negativen Folgen der Flüchtlingskrise. Nicht so DIW-Präsident Marcel Fratzscher: Er verweist auf enorme Überschüsse der öffentlichen Haushalte.
Wie viel die Flüchtlingskrise Deutschland kosten wird, lässt sich nach Ansicht Marcel Fratzschers, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), derzeit noch nicht bestimmen. "Solche Berechnungen lassen sich nicht seriös anstellen", sagt Fratzscher.
"Wir nehmen an, dass wir im nächsten Jahr zehn Milliarden an zusätzlichen Kosten für Flüchtlinge haben. Wir wissen es nicht. Es können auch deutlich mehr sein, es können 15, es können 20 Milliarden Euro sein, je nachdem, wie viele Menschen kommen."
"Bund, Länder und Kommunen haben riesige Überschüsse"
Größere finanzielle Probleme sieht der Ökonom gleichwohl nicht auf Deutschland zukommen, da es eine "rekordniedrige Arbeitslosenquote" und viele offene Stellen gebe. "Der Arbeitsmarkt kann diese Zuwanderung verkraften", sagt Fratzscher.
"Auch die öffentlichen Haushalte, also der Bund, Länder und Kommunen, haben riesige Überschüsse. Wir reden hier von 20 Milliarden Euro an Überschüssen in diesem und noch mal im nächsten Jahr."
Diese Überschüsse seien ausreichend, um die Kosten "kurzfristig zu stemmen", betont Fratzscher.
"Und auch wenn wir mehr ausgeben, als wir einnehmen: Wäre es wirklich so schlimm, wenn wir mehr Geld in diese Menschen investieren? Ich glaube, wir müssen uns auch bewusst sein, je mehr wir jetzt in diese Menschen investieren, die hierherkommen, desto mehr investieren wir auch in unsere eigene Zukunft."
Fratzscher verteidigt die Integration der Zuwanderer als nachhaltiges Vorgehen und Notwendigkeit.
"Je mehr wir jetzt in diese Menschen investieren, die hierherkommen, desto mehr investieren wir auch in unsere eigene Zukunft."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Wirtschaft warnt vor Flüchtlingschaos, Steuererhöhungen wegen der Flüchtlinge, Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht – so lasen sich nur einige Überschriften, die vor den wirtschaftlichen Folgen der vielen Flüchtlinge in unserem Land warnen und damit letztlich sagen, dass wir es eben, anders als Angela Merkel glaubt, doch nicht schaffen, jedenfalls nicht ohne einen hohen Preis zu zahlen. Ein paar Beispiele gefällt? Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut: Wir werden alle ärmer werden. Sein designierter Nachfolger Clemens Fuest hat errechnet, dass die Integration 20 bis 30 Milliarden pro Jahr kosten wird und die Staatsschulden steigen, der Sozialexperte der Uni Freiburg Bernd Raffelhüschen sagt sogar, Steuererhöhungen seien unumgänglich. Einzig Professor Marcel Fratzscher, der Präsident des DIW, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, ist da anderer Ansicht. Es müssen keine Steuern erhöht werden und auch keine Leistungen für irgendjemanden gekürzt werden. Guten Morgen, Herr Fratzscher!
Marcel Fratzscher: Guten Morgen!
"Rekordniedrige Arbeitslosenquote" und 500.000 offene Stellen
von Billerbeck: Woher Ihr Optimismus?
Fratzscher: Der Optimismus kommt daher, dass ... Natürlich ist es eine große Herausforderung für uns, natürlich wird uns das kurzfristig eine Menge kosten. Aber eigentlich, wenn man die letzten 50 Jahre zurückdenkt, gibt es keinen Zeitpunkt, an dem wir besser mit dieser Herausforderung umgehen könnten. Wir haben in Deutschland einen Arbeitsmarkt, der hervorragend läuft, wir haben eine rekordniedrige Arbeitslosenquote, die wir seit 20, 30 Jahren nicht mehr hatten, wir haben viele offene Stellen, 500.000 offene Stellen, wo Unternehmen Menschen suchen, Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen suchen.
Und auch die öffentlichen Haushalte, also der Bund, Länder und Kommunen, haben riesige Überschüsse. Wir reden hier von 20 Milliarden Euro an Überschüssen in diesem und noch mal im nächsten Jahr. Und diese Überschüsse sind ausreichend, diese Kosten kurzfristig zu stemmen. Deshalb, wir sind eigentlich in einer sehr günstigen Situation, mit dieser Herausforderung fertig zu werden.
Derzeit keine seriöse Berechnung möglich
von Billerbeck: Aber 215 Bürgermeister haben da einen Brief geschrieben und warnen davor, dass sie überlastet sind. Das hört sich doch anders an?
Fratzscher: Ja, natürlich haben viele Bürgermeister, viele Kommunen, viele Städte riesige Herausforderungen. Sie haben hohe Kosten, müssen natürlich die Menschen unterbringen, müssen sie verpflegen, müssen sich um sie kümmern. Also, es ist sicherlich richtig, viele Kommunen haben große Schwierigkeiten. Deshalb geht es um die Frage, wie können wir die Gelder, die in Deutschland da sind – also, auch der Bund hat hohe Überschüsse – dorthin bekommen, wo sie notwendig sind, nämlich bei den Kommunen, bei den Städten? Und das ist die Herausforderung. Aber es geht nicht per se darum, dass wir jetzt neue Schulden aufbauen müssen, dass wir irgendwelche Leistungen kürzen müssen für Deutsche. Also, das ist extrem kontraproduktiv, wir dürfen also nicht den Eindruck vermitteln, jetzt müssten wir hier auf Bildung oder Ausbau von Straßen oder sozialen Leistungen verzichten, weil jetzt Flüchtlinge kommen. Dieser Eindruck ist völlig falsch und das führt nur zu einem Konflikt zwischen Deutschen und Flüchtlingen und das ist einfach irreführend, weil das nicht stimmt.
von Billerbeck: Sie sprechen ja von großen Überschüssen beim deutschen Staat, 20 Milliarden, und sogar diese Überschüsse noch, wenn man die Kosten abzieht für die Flüchtlinge, etwa zehn Milliarden. Aber haben Sie nicht Angst, mal wie Norbert Blüm zu enden, Stichwort "die Rente ist sicher" ... Also, meine Frage geht dahin: Lassen sich solche Berechnungen eigentlich jetzt schon seriös anstellen?
Fratzscher: Nein, solche Berechnungen lassen sich nicht seriös anstellen. Wir, wie Sie gesagt haben, nehmen an, dass wir nächstes Jahr zehn Milliarden Euro an zusätzlichen Kosten für Flüchtlinge haben. Wir wissen es nicht, es können auch deutlich mehr sein, es können 15, es können 20 Milliarden Euro sein, je nachdem, wie viele Menschen kommen.
Flüchtlinge müssen schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden
von Billerbeck: Und das schaffen wir trotzdem?
Fratzscher: Das schaffen wir trotzdem, weil wir diese Überschüsse haben, wir haben also ein dickes Polster. Und auch wenn wir mehr ausgeben, als wir einnehmen, wäre es wirklich so schlimm, wenn wir mehr Geld in diese Menschen investieren? Ich glaube, wir müssen uns auch bewusst sein: Je mehr wir jetzt in diese Menschen investieren, die hierherkommen, desto mehr investieren wir auch in unsere eigene Zukunft.
Denn uns muss es ja darum gehen, diese Menschen so schnell wie möglich in Deutschland zu integrieren, vor allem in den Arbeitsmarkt. Dass sie letztlich die Sprache lernen, dass sie ihre Qualifikation anerkannt bekommen oder eine Ausbildung bekommen, dass sie so schnell wie möglich einen Job bekommen können und damit natürlich auch Steuern zahlen und der deutsche Staat entlastet wird. Deshalb müssen wir kurzfristig auch so denken, was ist notwendig an Investitionen in diese Menschen, damit sie so schnell wie möglich Fuß fassen können!
von Billerbeck: Warum sind Sie so sicher, dass wir das schaffen mit den vielen Hunderttausend Flüchtlingen, wenn wir es doch nicht mal schaffen, Hunderttausende Hartz-IV-Bezieher zu integrieren in den Arbeitsmarkt?
Die gescheiterte Integration der Langzeitarbeitslosen muss uns eine Lehre sein
Fratzscher: Genau das ist ein sehr wichtiger Vergleich. Wir haben viele Langzeitarbeitslose in Deutschland, die drei, vier, fünf Jahre und mehr arbeitslos sind, und jeder Monat, den ein Mensch keine Beschäftigung hat, wird es schwieriger für ihn oder für sie, wieder Fuß zu fassen. Und das ist die Lehre, die wir aus den letzten Jahren ziehen sollten, dass wir gescheitert sind, diese Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Und gerade deshalb dürfen wir es bei den Flüchtlingen gar nicht so weit kommen lassen. Deshalb dürfen wir nicht die erst mal zwei Jahre sitzen lassen, bevor sie überhaupt einen Bescheid bekommen und dann noch mal ein paar Jahre brauchen, um sich überhaupt zu integrieren. Deshalb ist es extrem wichtig und dringend, diese Menschen zu integrieren, nicht nur einen Sprachkurs, sondern auch ihre Qualifikation anzuerkennen oder eine Ausbildung oder Fortbildung zu geben, damit sie so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt kommen, um genau diese Erfahrung der Langzeitarbeitslosen zu vermeiden.
Die Wirtschaft sucht nicht nur Fachkräfte, sondern auch weniger Qualifizierte
von Billerbeck: Sie haben also keine Angst, dass da Regeln ausgehebelt werden wie zum Beispiel der Mindestlohn, dass sie alle als Billigjobber landen?
Fratzscher: Nein, ich denke, wir dürfen auch hier nicht den Eindruck vermitteln, jetzt müssen Menschen in Deutschland mit niedrigen Löhnen dafür einen Preis zahlen, dass wir Flüchtlinge haben. Das muss nicht sein. Wir haben viele offene Stellen, ich habe es eben genannt, über 500.000 offene Stellen, wir haben viele offene Ausbildungsplätze, also, der Arbeitsmarkt kann diese Zuwanderung verkraften. Und viele der Wirtschaftsunternehmen sagen ja auch, wir suchen nicht nur nach Fachkräften, also nicht nur qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern wir suchen auch nach weniger qualifizierten Menschen.
Also, die Möglichkeit ist da und jetzt geht es darum, sowohl die Wirtschaft muss eine Anstrengung unternehmen, diese Möglichkeiten dann auch ganz konkret zu eröffnen, und auch die Politik muss letztlich durch eine Integration dieser Menschen dazu beitragen, dass sie eine Chance haben, hier Fuß zu fassen, also den Raum, die Möglichkeit. Die Wirtschaft im Augenblick in Deutschland ist stark genug, um das zu stemmen.
von Billerbeck: Ein optimistischer Präsident des DIW, Marcel Fratzscher, herzlichen Dank für das Gespräch!
Fratzscher: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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